Karl Klabautermann und der schiefe Turm - eine lustige Gute-Nacht-Geschichte
- Michael Mücke
- vor 5 Tagen
- 4 Min. Lesezeit

Es war einmal ein kleiner Klabautermann namens Karl, der am liebsten baute, tüftelte und erfand. Karl war nicht größer als eine Kanne heißer Kakao, aber in seinem Kopf steckten Ideen, die riesiger waren als jedes Schloss der Welt.
Er lebte in einem alten Bootshaus am Fluss, dessen Wände krumm waren wie ein Fragezeichen und dessen Dach Löcher hatte, durch die man nachts die Sterne sehen konnte. Für Karl war das Bootshaus nicht kaputt, sondern einfach nur voller Charakter.
Eines Abends saß er auf seinem winzigen Stuhl, hielt eine alte Zeichnung in den Händen und murmelte: „Andere bauen gerade Häuser, Türme oder Schlösser – aber ich baue etwas, das noch keiner gewagt hat!“ Dann sprang er auf, so plötzlich, dass er dabei fast seine Laterne umstieß, und rief laut: „Ich baue den schiefsten Turm der Welt!“
Seine Stimme hallte durchs Bootshaus, und sofort kamen seine Freunde angelaufen. Mimi, die flinke Maus, kam zuerst. Sie trug wie immer ein Stück Käse mit sich herum, als wäre es ihr Schatz. Kurz darauf flatterte der alte Rabe Roderich durch das Fenster.
Er war schwarz wie die Nacht, aber seine Augen funkelten wachsam und ein bisschen spöttisch. Schließlich kroch auch Trudel, die Schildkröte, langsam herein, so als hätte sie alle Zeit der Welt.
Karl erklärte aufgeregt seinen Plan: „Wir bauen keinen gewöhnlichen Turm. Nein! Unser Turm soll aus den verrücktesten Dingen bestehen, die wir finden können. Je schiefer, desto besser. Und wenn er steht, dann soll ihn die ganze Welt bewundern!“
Mimi quietschte begeistert: „Dann suchen wir sofort nach Baumaterialien!“ Roderich schüttelte die Flügel und grummelte: „Das wird niemals halten. Türme stürzen nun mal um.“ Trudel lächelte langsam und sagte: „Wenn man klug stapelt, hält sogar das Seltsamste.“
Am nächsten Morgen machten sie sich auf den Weg. Karl trug einen kleinen Hammer, Mimi zog einen Mini-Karren, Roderich flatterte hoch über allem, und Trudel trottete gemächlich hinterher.
Das erste Fundstück war ein riesiger, alter Schuhkarton, den jemand am Fluss liegen gelassen hatte. Er war weich, wackelig und schaukelte schon, wenn man nur daran dachte. Mimi quietschte: „Den nehmen wir als Fundament, weil er so schön kippelt!“
Roderich krächzte: „Ein Fundament muss stark sein, nicht weich!“
Doch Karl klatschte in die Hände: „Genau deswegen ist er perfekt. Unser Turm soll schief werden, nicht gerade!“
Sie stellten den Schuhkarton auf eine kleine Wiese direkt neben dem Bootshaus. Schon beim Abstellen schwankte er, aber er blieb erstaunlicherweise stehen. Karl grinste zufrieden.
Als nächstes fanden sie einen Haufen leerer Konservendosen. Wenn der Wind durch sie hindurchpfiff, klimperten sie wie kleine Glocken. Karl rief begeistert: „Die stapeln wir! Dann wird unser Turm nicht nur schief, sondern auch musikalisch.“
Die Dosen rutschten jedoch ständig weg. Da sagte Trudel: „Wir brauchen etwas zum Kleben. Marmelade hält besser als jeder Zement.“
Gesagt, getan – sie schleppten Gläser voller Brombeermarmelade herbei. Mimi schmatzte heimlich ein bisschen davon, bevor sie die zähe Masse zwischen die Dosen schmierte. Und tatsächlich: Die Dosen klebten nun fest zusammen, auch wenn Karl danach so klebrige Hände hatte, dass er fast daran festhing.
Der Turm wuchs und wuchs. Sie bauten weiter mit einem alten Regenschirm, der immer wieder aufsprang, sobald der Wind ihn berührte. Karl rief lachend: „Der Schirm ist unser erster Balkon!“ Danach legten sie eine Matratze mit Sprungfedern darauf.
Immer wenn jemand darauf trat, hüpfte der ganze Turm einen halben Meter hoch. Mimi sprang vor Freude immer wieder hinauf, während Roderich entsetzt krächzte: „Das ist kein Turm, das ist ein Trampolin!“
Aber Karl ließ sich nicht beirren. Sie fanden einen zerbeulten Kochtopf, eine halbe Türe, eine quietschende Schubkarre und sogar eine riesige Teekanne, die so groß war, dass man fast darin baden konnte.
Roderich weigerte sich zunächst, die Teekanne hochzufliegen, doch Karl überredete ihn mit den Worten: „Wenn du sie nach oben bringst, bekommst du die oberste Sitzstange im Turm!“ Und das wirkte. Roderich flatterte mühsam, doch schließlich saß die Teekanne ganz oben und glänzte im Sonnenlicht.
Die Nachbarskinder, die am Fluss spielten, kamen neugierig vorbei. Sie fragten: „Was baut ihr da eigentlich?“ Karl erklärte stolz: „Den schiefsten Turm der Welt, schöner als gerade Mauern, bunter als jedes Schloss!“ Die Kinder klatschten begeistert, obwohl der Turm so sehr schwankte, dass man dachte, er würde gleich einstürzen.
Als die Nacht hereinbrach, leuchtete der Mond hell über dem Turm. Die Teekanne funkelte, die Konservendosen sangen im Wind, und der Regenschirm klappte rhythmisch auf und zu, als wollte er dazu tanzen.
Der Turm schwankte wie ein Schiff auf dem Meer, aber er fiel nicht um. Karl setzte sich mit seinen Freunden auf die Wiese, schaute nach oben und flüsterte: „Wir haben etwas Einzigartiges geschaffen. Schief, bunt, verrückt – und wunderschön.“
Mimi rollte sich zufrieden in ihrem Karren zusammen, Roderich flatterte auf die Spitze der Teekanne und rief müde: „Gut, ich gebe zu, das ist der seltsamste, aber wundervollste Turm, den ich je gesehen habe.“
Trudel nickte langsam, schloss die Augen und sagte: „Manchmal ist das Verrückte genau das, was die Welt braucht.“
So schliefen sie ein, während über ihnen der schiefste Turm der Welt im Mondlicht knarrte, klimperte und sang – und niemand hätte ihn je umstoßen können.