Die Sandmännchen-Schule - eine schöne Gute-Nacht-Geschichte
- Michael Mücke

- 23. Okt.
- 4 Min. Lesezeit

Tief, tief hinter den Nebeln des Abendhimmels, dort, wo die Träume beginnen, liegt die geheimnisvolle Sandmännchen-Schule. Sie ist kein gewöhnlicher Ort. Man kann sie nicht auf einer Landkarte finden und kein Mensch kann sie sehen, solange er wach ist.
Nur wer an Träume glaubt, wer den Wind flüstern hört und die Sterne freundlich anlächelt, kann ihren Eingang erkennen – ein schimmerndes Tor aus purer Mondenergie, das in der Luft schwebt und leise summt.
Die Schule selbst ist ein seltsames Bauwerk. Ihre Mauern bestehen aus festgewordenem Schlafstaub, der in allen Farben des Regenbogens glitzert. Die Fenster sind aus gläsernen Traumblasen, in denen sich Szenen aus fremden Träumen bewegen.
Mal sieht man dort ein Einhorn tanzen, mal einen kleinen Jungen, der durch die Wolken segelt. Die Flure riechen nach warmer Milch und Lavendel, und aus den Klassenzimmern hört man ein sanftes Kichern, wenn der Schlafstaub mal wieder zu früh kitzelt.
Dort lernen die kleinen Sandmännchen alles, was man wissen muss, um Träume zu erschaffen. Sie üben, den Schlafstaub richtig zu mischen, lernen, Albträume zu zähmen und erfahren, wie man Träumer sicher durch die Nacht führt. Ihre Lehrer sind uralt, manche älter als der Mond selbst. Der berühmteste unter ihnen heißt Professor Schlummerbart.
Sein Bart besteht aus feinem, goldenem Sternenstaub, der sich bei jedem Atemzug bewegt, als hätte er ein eigenes Leben. Wenn er spricht, klingt seine Stimme wie das Rauschen einer Decke, die man liebevoll über ein Kind legt.
Eines Abends, als der Nebel besonders silbern leuchtete, kam ein neues Sandmännchen in die Schule. Es hieß Lino, war kleiner als die anderen und hatte Augen so hell wie zwei frisch aufpolierte Monde. Lino war neugierig, aufgeregt und ein bisschen schusselig.
Schon am ersten Tag stellte er unzählige Fragen: „Warum schlafen manche Kinder mit offenen Augen?“, fragte er.„Kann man Träume auch malen?“ „Und wohin gehen die Träume, wenn man sie vergisst?“
Die anderen Sandmännchen kicherten, denn sie kannten schon die meisten Antworten. Doch Professor Schlummerbart legte Lino sanft die Hand auf die Schulter und sagte: „Jede gute Frage ist ein kleiner Traum, der noch aufwachen will.“
Der Unterricht begann früh in der Dämmerung, wenn der Himmel violett und silbern zugleich war. Die Sandmännchen lernten zuerst, wie man den Schlafstaub richtig mahlt.
Dazu mussten sie durch den Garten der Traumblumen schleichen, in dem die Blüten nur dann ihre Pollen freigaben, wenn man ein Schlaflied summte. Dann rührten sie die Pollen mit Mondmilch an, bis sie zu feinem, glitzerndem Staub wurden.
Nur wer ganz ruhig blieb, konnte den Staub in die Fläschchen füllen, ohne dass er davonflog. Lino jedoch war selten ruhig. Eines Morgens kippte er beim Mischen einen ganzen Becher Schlafstaub auf den Boden.
Sofort begann der Staub zu funkeln, und hunderte winzige Traumblasen stiegen auf. Aus ihnen schlüpften die seltsamsten Gestalten: ein tanzender Toaster, ein Elefant mit Regenschirmen statt Ohren, und eine Melone, die Opernarien sang. Die anderen Sandmännchen kreischten: „Lino, du hast die Traumkammer geöffnet!“
Professor Schlummerbart aber lachte leise und sprach: „Manchmal führt das größte Chaos zu den schönsten Träumen.“ Dann schwang er seinen Zauberstab aus Mondholz, und langsam schwebten die Traumwesen zurück in die Blasen. Doch eine blieb – eine kleine, funkelnde Traumfee mit Flügeln aus Sternenlicht.
Sie flatterte vor Linos Nase und kicherte: „Danke, dass du mich geweckt hast. Ich heiße Fira und ich war schon seit Jahrhunderten im Staub eingeschlossen.“
Von diesem Tag an waren Lino und Fira unzertrennlich. Sie übten zusammen im Traumlabor, wo die Sandmännchen lernten, Gefühle in Farben zu verwandeln.
Wenn ein Kind traurig war, brauchten sie sanftblauen Troststaub. Wenn ein Kind mutlos war, brauchten sie funkelnden Goldstaub, der aus dem Mutlicht des Morgens gewonnen wurde.
Fira hatte ein besonderes Talent: Sie konnte hören, was Träume flüsterten, bevor sie entstanden. Sie sagte: „Träume haben Stimmen, Lino. Wenn du ganz still bist, kannst du sie hören.“
Also saßen sie oft in der Nacht auf dem Dach der Schule, schauten zu den Sternen hinauf und lauschten. Und manchmal hörten sie das sanfte Summen von Kindern, die im Schlaf lächelten.
In der großen Bibliothek der Schule stand das „Buch der Träume“. Es war so dick wie ein Berg und so alt wie der erste Mondschein. In diesem Buch waren alle Träume der Welt aufgeschrieben. Lino blätterte oft heimlich darin. Er las von fliegenden Fischen, von sprechenden Bäumen und von Kindern, die durch Gemälde spazierten. Doch zwischen den Seiten fand er eines Nachts eine leere Seite.
„Was bedeutet das?“, fragte er. Professor Schlummerbart antwortete geheimnisvoll: „Das ist eine Seite für Träume, die noch nicht geträumt wurden. Vielleicht gehört einer davon dir.“
Einige Wochen später stand die große Abschlussprüfung bevor. Alle Sandmännchen mussten beweisen, dass sie einen Traum retten konnten, bevor er verblasste. Lino bekam die Aufgabe, den Traum eines kleinen Mädchens namens Maja zu bewachen. Ihr Traum war grau, leer und kalt – ein Ort ohne Lachen, ohne Licht, ohne Klang.
Fira zupfte an seinem Ärmel. „Lino, dieser Traum stirbt. Wenn du nichts tust, wird er zu einem Schatten.“
Lino schloss die Augen, atmete tief den Duft des Schlafstaubs ein und begann zu mischen. Er fügte einen Tropfen Mut hinzu, eine Prise Freude, ein paar Klänge aus einem Kinderlachen und etwas Licht aus einer Sternschnuppe.
Dann blies er den Traum vorsichtig an. Der graue Nebel begann zu glühen, und langsam wuchs daraus ein Garten – Majas Garten. Überall blühten Sonnenblumen, die sangen, und bunte Schmetterlinge tanzten im Wind.
Fira jubelte: „Du hast einen verlorenen Traum gerettet!“ Lino lächelte müde, aber glücklich. „Ich glaube, ich habe verstanden, was ein echter Sandmann tut,“ sagte er leise.
Als sie am nächsten Morgen zurückkehrten, wartete Professor Schlummerbart bereits auf sie. Sein Bart leuchtete heller als je zuvor. „Lino,“ sagte er stolz, „heute hast du gelernt, dass Träume nicht nur gemacht, sondern gefühlt werden müssen. Du bist jetzt ein wahrer Hüter der Nacht.“
Seit diesem Tag fliegt Lino jede Nacht über die Welt, gemeinsam mit Fira. Sie tragen kleine Beutel voller Schlafstaub, Mut und Lachen. Wenn sie ein Kind finden, das nicht einschlafen kann, streuen sie ein wenig Sternenlicht auf das Kopfkissen und flüstern: „Schlaf gut, kleiner Träumer. Heute wird dein Traum besonders schön.“
Manchmal hört man dann ein leises Kichern im Wind, ein feines Flattern in der Dunkelheit – das sind Lino und Fira, die neue Träume malen, aus Farben, Klängen und Hoffnung. Und irgendwo, zwischen Stern und Mond, lächelt Professor Schlummerbart und sagt: „Die Nacht ist nie leer, solange ein Kind noch träumt.“




