Der Tunnel nach Unter-Kopfüber-Land - Gute-Nacht-Geschichte
- Michael Mücke
- 4. Mai
- 4 Min. Lesezeit

Es war ein Samstagnachmittag, an dem alles ganz normal anfing und dann total verrückt wurde. Linus, ein achtjähriger Junge mit einer riesigen Neugier und einem Pullover, auf dem ein Nilpferd mit Taucherbrille abgebildet war, lag auf dem Bauch im Garten und grub. Nicht, weil er musste, sondern weil er hoffte, dass er eines Tages etwas ganz Großartiges finden würde.
Einen Schatz vielleicht. Oder ein Skelett. Oder einen geheimen Eingang zu einer Untergrundstadt aus Schokolade. So was.
Seine kleine Schwester Maja, sechs, schlau, skeptisch, mit einer Vorliebe für alles Glitzernde balancierte währenddessen auf dem Rand der Sandkiste und sang ein Lied über ein Känguru, das Zahnarzt werden wollte. Es war ein ziemlich gutes Lied, ehrlich gesagt.
Linus’ Schäufelchen bohrte sich tiefer und tiefer in die feuchte Erde unter dem alten Apfelbaum, als es plötzlich KLONG! machte.
„Uaaaah!“, schrie Linus erschrocken, ließ die Schaufel fallen und starrte in das Loch.
Unter einer Schicht Wurzeln und Erde war eine runde, metallene Luke zu sehen, fast wie der Deckel eines riesigen Marmeladenglases. Nur aus Eisen.
Und mitten drauf stand in krakeliger Schrift:
„Nur öffnen, wenn du mutig, neugierig und ein kleines bisschen verrückt bist.“
„Maaaaja! Schnell, komm her! Ich glaub, ich hab was gefunden!“
Maja sprang von der Sandkiste, rannte zu ihm, kniete sich hin, pustete den Dreck weg und las.
„Mutig. Neugierig. Verrückt. Das passt zu dir. Ich bin nur neugierig und ein kleines bisschen verrückt.“
„Passt also auch zu dir!“
Ein Hebel ragte neben der Inschrift hervor. Linus und Maja sahen sich an.
„Eins... zwei... drei!“
Mit vereinten Kräften zogen sie. Ein dumpfer KLACK! hallte durch den Garten, die Luke öffnete sich zischend, und ein leuchtender Nebel quoll heraus. Darunter war... eine Rutsche. Eine durchsichtige Röhre, die im Dunkel verschwand. Und sie glitzerte. Wie eine Zuckerstange im Weltall.
„Du zuerst?“, fragte Maja.
„Okay. Wenn ich in Lava lande, schick Mama nicht direkt, sondern erstmal Papa.“
Er grinste, setzte sich an den Rand und ließ sich fallen.
„WUUUUUUUIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIH!!!“
Maja hörte noch, wie er kicherte, dann war er weg. Sie atmete tief ein.
„Na gut. Wenn er stirbt, hab ich wenigstens das größere Zimmer.“
Und rutschte hinterher.
Die Rutsche war kein bisschen normal. Sie drehte sich, sie flog, sie machte Loopings, drehte die Kinder auf den Kopf, dann auf die Seite, dann in Spiralen. Dabei kamen seltsame Geräusche aus Lautsprechern: „Ding-Dong, bitte lachen Sie während der Fahrt!“ Und es roch... nach Popcorn und Zahnpasta.
Nach gefühlt zwanzig Minuten landeten sie plopp auf einem riesigen, weichen, fluffigen Haufen aus... Brokkoli. Doch statt muffig zu riechen, duftete er nach Vanille. Als Linus in einen Brokkoliröschen biss, schmeckte es wie Schokoladenpudding mit einem Hauch von Pfefferminze.
Sie standen auf und sahen sich um und da merkten sie es:
Alles war verkehrt herum.
Der Himmel war unten. Der Boden war oben. Die Bäume wuchsen nach unten, wie riesige grüne Kronleuchter. Schmetterlinge flogen rückwärts. Fische schwammen durch die Luft und blubberten Liedtexte von ABBA. Ein Elefant spazierte an ihnen vorbei – rückwärts auf Rollschuhen.
„Willkommen in Unter-Kopfüber-Land!“, rief plötzlich eine Stimme.
Ein Papagei landete vor ihnen. Er trug eine Fliegerbrille, ein Stirnband, ein Tütü und hatte einen Bart aus Zuckerwatte. „Ich bin Käpt’n Krickel, Oberkommandeur der Schräg-Abteilung!“
„Schräg ist gut.“, murmelte Maja.
„Ich dachte, ich träume, aber mein Traum kann sich so etwas nicht ausdenken.“, sagte Linus.
„Hier gibt’s keine Träume. Nur das, was der Kopf sich nicht zu denken traut.“, grinste der Papagei. „Kommt! Die große Kartoffelparade beginnt gleich!“
Sie stiegen in ein Fahrzeug, das aussah wie eine riesige Teekanne mit Propellern. Innen war es weich wie ein Sofa und roch nach Zimt. Es hob sich vom Boden und flog über Zuckerwattensäulen, durch ein Regenbogenportal und vorbei an einem Luftzirkus mit tanzenden Tintenfischen.
Die Parade fand in einer Stadt statt, die kopfüber an der Unterseite einer riesigen Höhlendecke hing. Die Straßen waren aus Gummibärchen gepflastert. Die Häuser schaukelten wie Puppenhäuser in einem Baum. Und mittendrin: tanzende Kartoffeln. In Röcken. In Anzügen. Mit Brillen. Mit Saxophonen.
„DAS ist das Verrückteste, was ich je gesehen habe.“, sagte Linus.
„Das sagst du immer, wenn ich Mamas Zahnbürste in Honig tauche.“, meinte Maja.
Eine riesige Kartoffel auf einem schwebenden Thron rief:
„Kopfsteher! Wir haben unsere Champions gefunden!“
Alle drehten sich zu Linus und Maja. Trompeten ertönten. Konfetti regnete von unten nach oben.
„Ihr müsst uns helfen! Die Uhr der Umkehr dreht sich zu schnell! Wenn sie rückwärts bis Null zählt, wird alles wieder normal!“
„Und das ist schlecht?“, fragte Maja.
„Für euch vielleicht nicht. Aber dann gäbe es hier keinen sprechenden Joghurt mehr. Und unsere Regenbogen-Zugvögel könnten nicht mehr rülpsen.“
Linus und Maja mussten die Uhr der Umkehr erreichen – in einem Rennen durch den Spiegelwald, über die Gummiball-Wüste und vorbei an den fliegenden Möhrendrachen.
Sie ritten auf Seifenblasen, hangelten sich durch Lianen aus Spaghetti und mussten einer Armee von tanzenden Staubsaugern ausweichen.
Am Ende erreichten sie die Uhr ein riesiges Zahnradgebilde aus Pfefferminzbonbons. Sie sprang schon auf -3!
„Schnell, rückwärts singen, rückwärts essen, rückwärts... äh... pupsen!“, rief Käpt’n Krickel.
Sie sangen „Backe backe Kuchen“ rückwärts. Linus schob sich ein Rückwärtsbrot rein (man fängt mit der Kruste an und hört beim Butter anstreichen auf). Und dann, wurde alles ganz still.
Ein leiser PLOPP und alles war stabil. Die Uhr blieb stehen. Die Möhrendrachen jubelten. Die Uhren fingen an, Käsekuchen zu spucken.
„Ihr habt’s geschafft!“, rief Käpt’n Krickel. „Hier – nehmt den Goldenen Umgedrehten Löffel. Damit könnt ihr immer wieder kommen.“
Der Löffel sah ganz normal aus – bis man ihn anpustete. Dann sagte er:
„Hallo, ich bin ein Löffel, der rückwärts redet, bitte nicht verlieren.“
Wieder zu Hause, plumpsten sie aus der Röhre in den Garten. Der Apfelbaum stand still. Kein Tunnel, keine Tür. Nur Brokkoligeruch und eine winzige Glitzerfeder am Boden.
„War das echt?“, fragte Maja.
„So echt wie dein Lied über das Zahnarzt-Känguru.“
Sie gingen ins Haus, schauten sich an und grinsten.
Unter ihren Kopfkissen lag der Goldene Löffel und sie wussten: Das war erst der Anfang.