Der sprechende Kaktus von Zimmer 3B - Gute-Nacht-Geschichte
- Michael Mücke
- vor 1 Tag
- 4 Min. Lesezeit

In einem ganz gewöhnlichen Mietshaus mit vier Etagen, roten Ziegeln und einem schiefen Briefkasten, lag in der dritten Etage ein ganz und gar ungewöhnliches Zimmer: Zimmer 3B.
Es war das Zimmer von Paul, einem siebenjährigen Jungen mit einem Kopf voller Ideen, einem Herzen voller Neugier und einem Kinderzimmer voller Spielzeug, Bücher und... einem ganz besonderen Kaktus.
Dieser Kaktus stand auf der Fensterbank, direkt neben einer wackeligen Lampe in Bananenform und einem alten Glas mit Buntstiften. Er war klein, rundlich, hatte viele winzige Stacheln und trug einen kleinen Tontopf mit einem aufgemalten Grinsegesicht. Paul hatte ihn von seiner Tante Elvira bekommen, die in einem Kaktusgarten arbeitete – was er super fand, auch wenn Tante Elvira oft nach Erde roch und immer Geschichten von „pflanzlicher Energie“ erzählte.
„Der braucht kaum Wasser, Paul. Nur etwas Liebe und Sonnenschein.“, hatte sie gesagt.
Doch Paul war sich sicher, dass dieser Kaktus mehr brauchte, nämlich Aufmerksamkeit. Und vielleicht, ganz vielleicht… eine Zahnbürste. Denn manchmal schien es, als würde er sich mit einem Stachel am Topfrand kratzen. Seltsam, oder?
Eines Abends, als die Sonne schon lange untergegangen war, der Regen sachte an die Fensterscheiben plätscherte und Paul in seinem Bett lag und den Schein seines Nachtlichts betrachtete es war ein Schwein mit Flügeln, das beim Einschalten ein leises „grunz-grunz“ machte, da passierte es.
Er hörte ein Kratzen. Erst ganz leise. Dann deutlicher. Und dann ein... Räuspern.
„Ä-ähäm… Verzeihung? Jemand wach?“
Paul richtete sich langsam auf. Er glaubte zuerst, es sei das Schweinelicht, das eine neue Funktion hatte. Doch nein. Die Stimme kam von der Fensterbank.
Und dort bewegte sich etwas. Der Kaktus. Ganz eindeutig. Er reckte sich, als würde er gähnen, und zwei winzige, schwarze Augen öffneten sich mitten in seinem stacheligen Grün. Und dann, ja wirklich, lächelte er.
„Endlich! Dachte schon, du hörst mich nie. Ich bin Prickel. Señor Don Prickelstein von und zu Kakteenhausen. Aber nenn mich einfach Prickel.“
Paul war so baff, dass er das Grunzen seines Nachtlichts überhörte. „Du… du sprichst! Du bist wirklich lebendig!“
„Na ja, so halb. Ich bin ein halbmagischer Kaktus. Wurde im Tal der tuschelnden Töpfe großgezogen und habe in der Wüste Windelwitz das Sprechen gelernt – von einer sehr netten, aber etwas vergesslichen Windhexe.“
Paul musste lachen. „Windelwitz? Die klingt wie ein Ort, an dem man nur mit Töpfchenführerschein wohnen darf.“
„Nicht falsch gedacht!“, sagte Prickel und nickte. „Die Einheimischen tragen Windeln aus Kaktusseide. Sehr praktisch bei Sandstürmen.“
Paul kicherte so laut, dass man unten im Wohnzimmer kurz das Radio leiser drehte.
„Und warum redest du ausgerechnet heute mit mir?“, fragte er, als er sich wieder beruhigt hatte.
Prickel seufzte. „Weil du bereit bist. Nur Kinder, die an das Unmögliche glauben und ihre Zähne regelmäßig putzen, dürfen mich hören.“
Paul war stolz. Er putzte wirklich sehr gründlich. Auch wenn er manchmal extra lange brauchte, um Spiegelfiguren zu machen.
„Möchtest du eine Geschichte hören?“, fragte Prickel und schwang sich mit einem eleganten Plopp auf den Nachttisch. „Eine Geschichte aus der Kaktuswelt, die nie ein Erwachsener hören darf?“
Paul nickte begeistert und kuschelte sich in seine Decke.
„Gut. Dann hör zu. Ich erzähle dir von der Reise des Kaktusritters, der das verlorene Sonnenlicht rettete.“
Und so begann die Geschichte mit einer Wüste, so groß wie hundert Spielplätze, in der es einst ewig Tag war. Doch eines Morgens war die Sonne verschwunden! Einfach weg.
Stattdessen nur ein grauer Himmel, aus dem es plötzlich Popcorn regnete (was den Tieren der Wüste sehr gefiel). Doch ohne Sonne wurden die Kakteen müde, ihre Blüten schlossen sich und sie fingen an zu niesen.
„Hatschi… hatschu… hatschakaktus!“
Da rief der Königskaktus, ein riesiger, alter Geselle mit einem Bart aus Spinnweben, nach einem Helden. Und der meldete sich: Sir Prickel, Kaktusritter im Miniaturformat, bewaffnet mit einem Zahnstocher und einem Helm aus Walnussschale.
Er machte sich auf den Weg über die rollenden Sanddünen, ritt auf einem gerupften Staubfuchs und traf unterwegs viele seltsame Gestalten: eine Sonnenbrillen tragende Schildkröte namens Frau Blinzelschneck, einen verliebten Kaktus-Postboten, der nur in Reimen sprach, und eine Bande kichernder Hummeln, die sich als Nachtlichter tarnten.
Nach vielen Abenteuern, Rätseln und einem epischen Duell mit einem vergesslichen Riesen, der die Sonne in seiner Hosentasche trug, weil er dachte, es sei ein Bonbon – brachte Prickel das Licht zurück. Die Wüste jubelte, die Kakteen warfen Konfetti aus Blütenstaub, und Prickel bekam eine Krone aus Keksstücken.
„Und die Moral der Geschichte?“, sagte Prickel und zwinkerte.
Paul überlegte. „Dass selbst der Kleinste etwas ganz Großes bewirken kann?“
„Ganz genau. Und dass man niemals ein Bonbon in einer Riesenhosentasche vergisst.“
Paul gähnte. Seine Augen wurden schwer.
„Prickel? Versprichst du mir, dass du morgen wieder da bist?“
„Solange du an mich glaubst und nicht vergisst, mir ein Schlückchen Gurkenwasser zu bringen bin ich immer da.“
„Gute Nacht, Prickel…“
„Gute Nacht, tapferer Zuhörer.“
Und während das Schweinennachtlicht noch ein letztes „grunz-grunz“ machte und draußen der Regen leise plätscherte, schlief Paul ein – mit einem Lächeln auf dem Gesicht und dem sicheren Gefühl, dass in seinem Zimmer 3B Magie lebte. Und ein sprechender Kaktus, der die besten Geschichten der Welt kannte.