Der Schmetterling, der Farben sammelte - Gute-Nacht-Geschichte
- Michael Mücke

- 29. Juni
- 4 Min. Lesezeit

Es war einmal ein kleiner Schmetterling, der in einem verborgenen Tal lebte, das kein Mensch je betreten hatte. In diesem Tal sangen die Blumen leise Melodien, wenn der Wind durch ihre Blätter strich, und die Bäume erzählten einander Geschichten, die sie in ihren Rinden bewahrten. Die Tiere konnten dort miteinander sprechen, nicht mit Worten wie wir, sondern mit Gedanken, Klängen und Farben.
Der Schmetterling hieß Lumio, und seine Flügel waren so klar wie Wasser. Wenn die Sonne auf sie schien, glitzerten sie ein wenig, aber sie hatten keine eigene Farbe. Die anderen Schmetterlinge im Tal waren bunt wie Regenbögen. Sie flatterten von Blüte zu Blüte und strahlten in Rot, Blau, Violett oder Orange. Nur Lumio blieb farblos.
Oft saß er auf einem Stein und beobachtete die anderen. Er bewunderte ihre Schönheit, doch er sehnte sich nicht einfach nur nach Farbe. Er wollte wissen, woher die Farben kamen, was sie bedeuteten, und ob sie eine Geschichte erzählten.
„Ich will Farben finden, die etwas bedeuten,“, sagte Lumio eines Tages, „Farben, die sprechen, singen und fühlen.“
So begann seine große Reise. Er flog los, ohne zu wissen, wohin der Wind ihn tragen würde. Der Himmel war weit, die Welt war groß, und Lumio war mutig.
Zuerst kam er zu einer Wiese, die im Frühling stand. Überall blühten Gänseblümchen, Klee, Mohn und Kornblumen. Die Farben schienen zu tanzen. Zwischen all dem Lachen der Blumen hörte er eine ruhige, weiche Stimme.
„Du suchst Farben?“, fragte eine blaue Glockenblume.
„Ja,“, antwortete Lumio, „aber ich möchte sie nicht einfach nehmen. Ich möchte sie verdienen.“
Die Glockenblume lächelte. „Dann hilf mir, meine Geschichte zu erzählen. Ich wurde einst von einer Träne des Himmels geboren.“
Lumio hörte aufmerksam zu. Die Blume erzählte ihm, wie sie gewachsen war, als der Regen fiel und ein Sonnenstrahl genau im richtigen Moment auf sie traf. Lumio versprach, ihre Geschichte weiterzugeben, und als Dank schenkte sie ihm ein Stück ihres leuchtenden Blaus. Es floss wie ein Lied über seinen linken Flügel.
Als er weiterflog, hörte er ein tiefes Brummen. In einem nahen Apfelhain entdeckte er eine Biene, die von einer Blüte zur anderen tanzte. Ihre Streifen leuchteten wie Gold.
„Woher hast du dein Gelb?“, fragte Lumio neugierig.
„Von der Sonne, aber nicht direkt,“, sagte die Biene, „ich trage nur einen Teil von dem, was sie mit den Blumen teilt.“
Sie führte Lumio zu einem Kreis aus Sonnenblumen. Die größte unter ihnen sprach mit einer Stimme, die wie warmer Wind klang.
„Trage unsere Farbe, wenn du Licht suchst, auch wenn es dunkel ist.“
So erhielt Lumio ein leuchtendes Gelb auf seinem rechten Flügel, das wie Mut in Farbe aussah.
In einem moosigen Wald begegnete er einem alten Fuchs. Seine Augen waren bernsteinfarben und klug.
„Farben?“, fragte der Fuchs, „sie sind nicht nur schön. Sie können auch trügen.
Willst du das Rot des Feuers oder das Rot des Herzens?“
Lumio dachte lange nach.
„Ich will das Rot, das wärmt, aber nicht verbrennt.“
Der Fuchs nickte, und aus einer Brombeerhecke kam ein tiefes, sanftes Rot, das sich wie eine Umarmung auf Lumios Rücken legte.
Dann kam Lumio an einen See. Dort traf er auf Libellen, die in metallischem Grün und Blau schimmerten. Sie flogen in wilden Mustern, fast wie Tänzerinnen.
„Willst du unser Farbenspiel?“, rief eine Libelle. „Dann tanze mit uns im Licht!“
Lumio versuchte es. Er flog hoch, dann tief, schlug Loopings und Kreise. Die Libellen lachten, und als sie sahen, dass er sich bemühte, gaben sie ihm ein glänzendes Türkis, das aussah, als hätte das Wasser selbst seine Farbe abgegeben.
Eines Nachts, in einem dichten Nebelwald, traf Lumio eine alte Eule. Sie war grau und unscheinbar, aber ihre Augen funkelten wie Sterne.
„Du hast Farben gesammelt. Aber hast du die Stille gehört?“
Lumio schwieg.
„Die Farbe der Nacht ist nicht Schwarz. Sie ist das Hören, das Warten, das Fühlen. Nimm ein Stück davon.“
Und so legte sich ein silbernes Grau auf Lumios Unterflügel, das nur im Mondlicht sichtbar war.
Ganz zuletzt stieg Lumio hoch hinauf, bis zu den schneebedeckten Gipfeln der Kristallberge. Dort, wo der Himmel dünn und der Wind scharf ist, saß ein Adler auf einem Felsen. Seine Federn schimmerten wie Regen auf Stein.
„Was suchst du noch, Schmetterling mit den vielen Farben?“
„Die Farbe, die man nicht sieht,“, flüsterte Lumio.
Der Adler nickte und hob sich mit einem mächtigen Flügelschlag in die Lüfte. Lumio folgte ihm, obwohl die Luft kalt war und das Fliegen schwer. Ganz oben, wo der Wind fast kein Geräusch mehr machte, spürte Lumio plötzlich etwas.
Es war wie ein warmer Gedanke, wie eine Erinnerung an etwas Schönes, das noch nicht passiert war.
„Das ist Hoffnung,“, sagte der Adler. „Sie leuchtet nur in Herzen, die bereit sind zu warten.“
Und ohne dass man es sehen konnte, trug Lumio von da an die Farbe der Hoffnung auf seinem Brustkorb, verborgen, aber stark.
Als Lumio zurück in sein Tal flog, war er verändert. Die anderen Schmetterlinge versammelten sich, als sie ihn sahen. Seine Flügel erzählten Geschichten. Nicht nur durch Farben, sondern durch das Gefühl, das sie ausstrahlten.
„Wo warst du, Lumio?“, riefen sie.
„Ich habe die Welt besucht, nicht um schöner zu sein, sondern um zu verstehen,“, antwortete er.
Die Blumen sangen für ihn ein Lied. Die Bäume bogen sich ehrfürchtig. Die Tiere schwiegen voller Achtung. Und Lumio setzte sich auf seinen alten Stein und schaute in den Himmel.
„Ich habe die Farben nicht gesammelt, um sie zu besitzen,“, sagte er leise, „sondern um sie weiterzugeben.“
Und so wurde Lumio der Schmetterling, der Farben trug wie ein Gedicht. Kinder träumten von ihm. Alte Tiere erzählten von ihm. Und in jeder Blume, in jedem Regentropfen, in jeder leuchtenden Nacht, konnte man ein wenig von ihm spüren.
Gute Nacht, kleine Träumerin. Trage die Farben deiner Träume mit Stolz.
Gute Nacht, kleiner Träumer. Die Welt braucht deine Flügel.




