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Der kleine Zauberer - Gute-Nacht-Geschichte

  • Autorenbild: Michael Mücke
    Michael Mücke
  • 3. Mai
  • 4 Min. Lesezeit

Lino der kleine Zauberer steht vor einem kleinen Geist

Es war einmal, tief versteckt in einem Tal, das kaum auf Landkarten zu finden war, ein kleines, aber außergewöhnliches Dorf namens Funkelstein. Die Menschen dort waren besonders, nicht, weil sie besonders groß oder klein waren, oder besonders schnell laufen oder besonders schön singen konnten, sondern weil sie zaubern konnten. Jeder, wirklich jeder im Dorf war ein Zauberer oder eine Zauberin.


Vom frühesten Kindesalter an lernten sie, wie man mit einem Schwung des Zauberstabs ein Frühstück herbeizauberte oder wie man aus Regentropfen kleine tanzende Glühwürmchen machte.


Nur einer war anders.


Er hieß Lino. Sechs Jahre alt, mit zerzausten braunen Haaren, Sommersprossen auf der Nase und einer Jacke, in deren Taschen immer Krümel, Murmeln oder Federn zu finden waren. Lino war ein Zauberer oder sollte es jedenfalls sein. Er hatte sogar einen eigenen Zauberstab, handgeschnitzt aus einem Ast des Flüsterbaums, mit einem kleinen blauen Kristall am Griff.


Aber Lino mochte keine Zauber.

„Warum sollte ich mit einem Zauberspruch ein Fenster öffnen, wenn ich es auch einfach mit der Hand machen kann?“, sagte er oft, während er die Fensterläden mit einem Ruck aufstieß und den Wind ins Zimmer ließ.


Seine Eltern waren ratlos. Seine Mutter, Magistra Mirabella, konnte aus einem Wassertropfen ein Orchester aus Froschgeigen zaubern. Sein Vater, Meister Brando, verwandelte jeden Sonntag die Wohnzimmerdecke in einen nächtlichen Sternenhimmel. Seine Schwester Elva zauberte sich in der Schule jeden Tag einen anderen Haustierfreund: mal ein winziges Flammeneichhörnchen, mal einen flauschigen Windfuchs.


Aber Lino? Der las lieber Bücher ohne bewegte Bilder, spielte mit echtem Sand und sammelte Kieselsteine, die lustige Formen hatten.


Er war höflich, freundlich aber wenn jemand ihm einen Zauber zeigen wollte, sagte er nur: „Danke, aber nein danke.“


Die anderen Kinder fanden ihn merkwürdig.


„Du bist doch ein Zauberer, oder?“, fragte einmal ein Mädchen namens Tilda und runzelte die Stirn. „Warum benutzt du es nicht?“


„Weil ich lieber selbst herausfinde, wie die Welt funktioniert,“, sagte Lino leise.

Eines Abends der Himmel war noch hellblau, aber in der Ferne türmten sich lila Wolken auf traf eine Nachricht im Dorf ein. Nicht auf Papier. Nicht per Vogel. Sie erschien einfach mitten auf dem Dorfbrunnen, flimmernd, schimmernd, wie aus Licht gemacht:


„Hilfe wird im Kristallwald gebraucht. Ein Schatten wächst. Nur wer ohne Zauber glaubt, kann ihn berühren.“


Das ganze Dorf versammelte sich. Selbst die alten, schrumpeligen Zaubermeister mit weißen Augenbrauen, die sich sonst nicht einmal aus ihren Teekannen bewegten, schauten aufgeregt.


„Was soll das bedeuten?“, murmelten sie. „Ohne Zauber glauben? Ist das ein Rätsel?“


Zirbo, der Älteste aller Zauberer, trat mit langsamen Schritten nach vorn. Seine Robe glitzerte wie der Nachthimmel.


„Ich kenne diesen Schatten,“ sagte er mit rauer Stimme. „Er kommt aus der Zeit, als die Welt noch jung war. Er wächst, wo Fantasie stirbt, wo Farben schweigen und Gedanken sich nicht trauen. Und kein Zauber kann ihn vertreiben nur Herz.“

Alle schauten sich ratlos an. Niemand wollte gehen. Zu gefährlich, zu ungewiss. Und außerdem was sollte man schon tun ohne Zauber?


Niemand bemerkte, dass sich Lino aus der Menge schlich.


Er ging nicht sofort in den Wald. Zuerst kehrte er nach Hause zurück, packte ein paar Dinge: seine Kreide, sein Lieblingsbuch ohne Bilder, einen Apfel, eine Decke und seinen Kompass, der eigentlich kaputt war, aber schön klackerte, wenn man ihn schüttelte. Und dann ganz ohne Zauber machte er sich auf den Weg.


Der Kristallwald lag hinter dem Silberfluss, der sich durch das Tal schlängelte. Am Tag glänzte der Wald wie ein riesiger Garten aus Edelsteinen, doch in dieser Nacht war er grau. Still. Sogar das Wasser in den Bächen plätscherte nicht mehr es stand still, als hätte es das Atmen vergessen.


Lino zitterte ein wenig. Nicht vor Angst – sondern vor dem Gefühl, das man bekommt, wenn etwas sehr Wichtiges bevorsteht.


Er trat in den Wald.


Mit jedem Schritt wurde es kühler, dunkler. Die Bäume bogen sich wie traurige Gestalten, der Boden fühlte sich schwer an. Lino hörte nichts nicht einmal sein eigenes Herz. Doch dann, nach einer Weile, entdeckte er Spuren. Keine Pfotenabdrücke. Keine Hufspuren. Es waren wie Fußspuren aus Licht, winzig, zart, leuchtend blassgrün. Und sie führten tiefer in den Wald hinein.


Er folgte ihnen. Stunden vergingen, oder vielleicht nur Minuten – in diesem Wald vergaß man die Zeit. Schließlich kam er zu einer Lichtung, auf der ein riesiger Kristall stand. Dunkel, schwarz wie Glas, und auf seiner Oberfläche bewegte sich etwas ein Schatten. Kein Tier, kein Mensch, kein Rauch. Etwas anderes. Etwas, das flackerte wie ein Gedanke, der vergessen werden wollte.


Lino trat näher.


„Was willst du?“, fragte eine Stimme sie war kalt, aber nicht böse. Sie war leer.

„Ich will verstehen,“, sagte Lino.


„Warum hast du keine Zauber mitgebracht?“

„Weil du nicht mit Zauber besiegt wirst.“


Der Schatten schwieg.


Lino kniete sich hin, nahm seine Kreide und begann zu zeichnen. Einen Kreis. Einen Vogel. Einen kleinen Jungen, der lachte. Um ihn herum malte er Muster, Spiralen, winzige Punkte. Und er sprach dabei:


„Du bist kein Monster. Du bist ein Teil von uns, der verloren ging. Du bist das, was bleibt, wenn wir aufhören zu träumen.“


Da begann der Schatten zu zittern. Und dann geschah etwas Wunderbares: Aus seinem Inneren leuchtete ein Licht. Erst schwach, dann stärker. Und mit einem Flüstern, das wie Musik klang, sagte er:


„Du hast mich erinnert. An Farben. An Mut. An das erste Lächeln eines Kindes.“

Der Kristall zerbrach nicht. Er verwandelte sich. Wurde durchsichtig, dann golden, dann… bunt. Wie ein riesiger Regenbogen in festem Glas.


Die Tiere kehrten zurück. Die Farben. Das Summen, das Rascheln, das Wispern des Waldes. Und Lino stand da – kein Zauberer mit Zauberstab, sondern ein Junge mit Herz.

Als er zurückkehrte, war es Morgen. Die Sonne stieg gerade über den Hügeln auf, und als das Dorf ihn sah, trat eine große Stille ein.


Zirbo trat vor, beugte sich zu ihm hinunter, und sagte mit leuchtenden Augen:

„Manchmal ist es der, der nicht zaubert, der die größte Magie von allen in sich trägt.“


Und von diesem Tag an wurde im Dorf eine neue Schule gegründet – eine Schule für stille Magie. Für Mut. Für Geduld. Für Fragen ohne Antworten.


Und Lino? Er wurde nicht gezwungen, je wieder zu zaubern.


Aber manchmal – wenn niemand hinsah – ließ er kleine Kreidevögel fliegen, die von selbst davonschwebten.


Gute Nacht, Lino.

Gute Nacht, du kleiner Zauberer, der keine Zauber mochte.

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