Das Geheimnis der Fee - Gute-Nacht-Geschichte
- Michael Mücke
- 3. Mai
- 4 Min. Lesezeit

Es war einmal ein kleines Dorf mit dem Namen Lichtenhain, das so versteckt zwischen sanften Hügeln und dichten Wäldern lag, dass selbst die Vögel auf ihren langen Reisen manchmal vergaßen, dass es dort war.
Die Dächer der Häuser waren aus rotem Ziegel und schimmerten im Abendlicht, und wenn man nachts durch die kopfsteingepflasterten Gassen schlich, konnte man den süßen Duft von Lavendel und frisch gebackenem Brot riechen, der aus den offenen Fenstern drang.
In diesem Dorf lebte ein achtjähriges Mädchen namens Mira. Mira war nicht wie die anderen Kinder. Während ihre Freunde gerne Fangen spielten oder auf der Dorfwiese Ball warfen, zog es Mira in die Natur. Sie liebte die Wälder, die Vögel, das Plätschern des kleinen Flusses und die geheimnisvollen Geräusche, die aus den Tiefen des Fliederwaldes kamen einem uralten, fast vergessenen Ort hinter dem Garten ihrer Großmutter.
Die Leute im Dorf nannten den Fliederwald nur „das stille Holz“, denn kaum jemand wagte sich hinein. Man munkelte, dort lebten merkwürdige Kreaturen, und manchmal glaubte man, Lichter zwischen den Bäumen tanzen zu sehen.
Mira aber fürchtete sich nicht. Sie spürte schon seit Jahren, dass dort etwas Besonderes schlummerte.
An einem lauwarmen Frühlingsabend, als die Sonne wie flüssiges Gold über die Felder rann und die Amseln ihr letztes Lied sangen, beschloss Mira, noch einmal allein in den Wald zu gehen. Sie hatte ein Flüstern gehört, als sie an der Grenze zwischen Wiese und Bäumen stand – ein so zarter Laut, dass man ihn fast mit dem Wind hätte verwechseln können.
„Mira…“, hatte es gehaucht.
Sie hielt inne. „Wer ruft mich?“, fragte sie, aber es kam keine Antwort. Nur der Wind spielte mit den Zweigen, und der Geruch von Blüten lag schwer in der Luft.
Neugierig und entschlossen betrat sie den Fliederwald. Die Bäume schienen sich über ihr zu neigen, als wollten sie sie beschützen oder sie warnen. Der Boden war mit einem Teppich aus blauen Waldblumen bedeckt, und zwischen den Sträuchern wuchsen Pilze, die in zartem Grün leuchteten.
Nach einigen Minuten hörte Mira ein feines Klingen – wie von winzigen Glöckchen, so hell und doch kaum hörbar. Es kam nicht von einem bestimmten Ort, sondern war überall um sie herum. Sie blieb stehen, spürte, wie ihr Herz klopfte, und flüsterte: „Ist da jemand?“
Ein Hauch, kaum mehr als ein Windstoß strich durch ihr Haar. Dann, eine Stimme, ganz leise und doch deutlich: „Du hast mich gefunden… obwohl du mich nicht sehen kannst.“
Mira fuhr herum. Niemand war da. Aber sie spürte, dass sie nicht allein war.
„Wer bist du?“, fragte sie.
„Ich bin Lysari… eine Fee, die seit Jahrhunderten unsichtbar ist.“
Mira blinzelte. „Eine unsichtbare Fee? Warum kann ich dich nicht sehen?“
„Weil das, was ich beschütze, zu gefährlich ist, um gesehen zu werden. Und meine Sichtbarkeit… ist daran gebunden.“
„An was gebunden?“
„An Vertrauen. Und an ein uraltes Versprechen.“
Ein Zittern ging durch die Blätter. Vögel verstummten. Die Luft wurde kühler, fast ehrfürchtig still.
„Was beschützt du?“, wollte Mira wissen, nun ernst und still.
„Etwas, das Herzlicht genannt wird. Es ist ein winziger Kristall, der einst aus einem Stern gefallen ist. Man sagt, er sei ein Stück der Seele der Welt. Wer ihn mit einem reinen Herzen berührt, erhält Weisheit, Geduld und Mitgefühl. Wer ihn aus Gier nimmt, wird von dunkler Macht verführt.“
Mira spürte, wie ihr inneres Zittern sich in Ehrfurcht verwandelte.
„Warum erzählst du mir das?“
„Weil du es hören sollst. Weil du vielleicht die Letzte bist, die noch zuhört. Und weil eine Gefahr naht.“
Ein Wispern fuhr durch die Bäume. Lysari sprach weiter:
„In den letzten Nächten spüre ich eine fremde Energie. Jemand sucht das Herzlicht. Jemand, der es nicht finden darf.“
„Ich will helfen.“
„Dann musst du bereit sein, den Pfad der Prüfungen zu gehen.“
Mira zögerte keine Sekunde. „Was muss ich tun?“
„Schließe deine Augen.“
Sie tat es. Und als sie sie wieder öffnete, stand sie an einem Ort, der nicht mehr ganz wie der Fliederwald war. Die Farben waren intensiver das Moos leuchtete smaragdgrün, die Luft war erfüllt von Musik, obwohl kein Instrument zu sehen war.
Schmetterlinge aus Licht tanzten um sie herum, und in der Ferne ragte ein Baum empor, so groß und alt, dass er den Himmel zu berühren schien. Seine Rinde war silbern, und seine Blätter schimmerten wie Tau im Morgenlicht.
„Das ist der Wächterbaum,“ flüsterte Lysari. „Dort unten, in seiner Wurzelhöhle, ruht das Herzlicht.“
Als Mira näher trat, bebte der Boden leicht. Sie hörte Stimmen flüsternde, wispernde Worte, die sie nicht verstand. Doch ihr Herz schlug ruhig, und sie fühlte keine Angst.
Sie kniete sich vor den Baum und legte ihre Hand auf die Rinde.
„Ich verspreche dir, ich werde dich beschützen. Mit meinem Leben, wenn es sein muss.“
In diesem Moment öffnete sich ein Spalt im Stamm. Dahinter lag eine Kammer aus Kristall, und in ihrer Mitte schwebte ein kleiner, sternenheller Stein das Herzlicht. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte Mira Lysari sehen klein, schimmernd, mit Flügeln wie aus Nebel, und einem sanften Lächeln.
„Du bist nun die Hüterin.“
Plötzlich bebte die Erde erneut diesmal stärker. Aus der Tiefe erklang ein grollendes Lachen. Dunkle Schatten krochen durch das Wurzelwerk, und kalter Nebel legte sich auf den Boden.
„Er kommt…“, hauchte Lysari. „Du musst jetzt deine Stärke zeigen.“
Mira stellte sich vor den Eingang. Ihre Beine zitterten, aber sie wich nicht zurück. „Du wirst es nicht bekommen,“ sagte sie fest. „Nicht, solange ich hier bin.“
Aus dem Nebel trat eine Gestalt, in dunklen Gewändern, mit Augen so leer wie die Nacht. Sie sprach kein Wort, aber sie streckte die Hand aus.
Da geschah etwas Wunderbares: Lysari, nun vollständig sichtbar, flog zwischen Mira und den Eindringling, ihre Flügel leuchteten so hell wie der Vollmond. Das Herzlicht pulsierte auf, und ein Lichtstrahl durchdrang den Schatten.
Ein Schrei ein Windstoß und dann… Stille.
Der dunkle Fremde war verschwunden. Der Nebel hob sich. Die Luft roch wieder nach Flieder und Moos.
Lysari lächelte. „Du hast das Herzlicht beschützt. Nicht mit Gewalt, sondern mit Mut, Mitgefühl und deiner Liebe zur Wahrheit.“
Sie legte eine winzige Hand auf Miras Stirn. „Von nun an kannst du mich immer sehen. Denn wer einmal wirklich gesehen hat, vergisst nie wieder, wie Magie aussieht.“
Mira ging zurück ins Dorf, begleitet von Lichtflügeln und funkelnden Spuren im Gras. Sie sprach nie öffentlich über das, was geschehen war. Aber in jeder Nacht, wenn sie das Fenster öffnete und den Wind spürte, hörte sie das feine Glöckchenläuten.
Und sie wusste: Das Geheimnis war sicher.