Die verborgene Stadt im Schrank - Gute-Nacht-Geschichte
- Michael Mücke
- vor 3 Tagen
- 4 Min. Lesezeit

Es war einmal ein kleines Mädchen namens Maja, das in einem alten, gemütlichen Haus am Rand eines großen, flüsternden Waldes lebte.
Maja war sieben Jahre alt, trug am liebsten ihren grünen Wollpullover mit den Flicken an den Ärmeln und hatte eine sehr lebhafte Fantasie.
Ihre Eltern sagten oft, sie würde „mit offenen Augen träumen“. Sie liebte Geschichten – vor allem die, die ihre Oma ihr erzählte, während sie gemeinsam auf der Couch saßen, eingekuschelt unter einer Decke mit gehäkelten Sternen.
In Majas Zimmer stand ein Kleiderschrank, der viel zu groß für ein Kinderzimmer schien. Er war aus dunklem Holz, voller Schnitzereien von Tieren, die man nur aus Märchen kannte, Vögel mit drei Augen, Füchse mit Federohren und Bäume mit Gesichtern. Niemand wusste, woher der Schrank kam.
Majas Mutter sagte nur: „Der gehörte schon meiner Großmutter. Und ihr Großvater sagte, er stand schon da, als das Haus gebaut wurde.“
Maja liebte den Schrank und gleichzeitig fürchtete sie sich ein wenig vor ihm. Besonders nachts, wenn alles still war und nur der Wind durch die Bäume rauschte.
Dann knarzte der Schrank manchmal, als würde er sich recken und strecken. Aber sie sagte sich immer: „Es ist nur das Holz. Holz lebt eben auch ein bisschen.“
Eines Abends, als der Himmel grau und schwer war und der Regen leise ans Fenster klopfte, konnte Maja nicht einschlafen. Sie wälzte sich im Bett, hörte das Prasseln draußen, das leise Knarzen des alten Hauses und dann sah sie es: Ein schmaler Lichtschein unter der Tür des Schranks.
Es war kein elektrisches Licht, sondern ein sanftes, warmes Leuchten, wie flüssiger Honig.
„Das ist neu,“ murmelte sie. Ihr Herz klopfte schneller, aber ihre Neugier war stärker als die Angst. Leise stand sie auf, zog ihren Bademantel über und tappte auf Socken zum Schrank.
Als sie die Tür öffnete, strömte ihr ein warmer Luftzug entgegen, der nach Zimt, alten Büchern und Sommerwiese roch. Drinnen hing nicht nur ihre Kleidung – nein, dort war ein Weg.
Ein schmaler Pfad aus leuchtenden Kieselsteinen, flankiert von wehenden Stoffbahnen, die wie bunte Vorhänge an Kleiderbügeln hingen. Am Ende des Pfads war kein Holz, sondern ein leuchtendes Tor, das wie ein Kirchenfenster in allen Farben schimmerte.
„Das ist ein Traum... oder ein Geheimnis,“ flüsterte Maja und trat durch das Tor.
Im nächsten Moment stand sie in einer anderen Welt. Der Himmel war lavendelfarben, mit goldenen Wolken. Über ihr schwebten leuchtende Quallen, die wie Laternen durch die Luft glitten. Die Stadt, die sich vor ihr erstreckte, war wie aus einem Traum gewebt.
Die Häuser waren aus alten Büchern gebaut, ihre Dächer aus Bonbonpapier und Seidenstoff. Die Fenster blinkten wie Edelsteine, und die Straßen bestanden aus zusammengefügten Knöpfen aller Größen und Farben.
„Willkommen in Knisterfurt!“ rief eine Stimme, die klang wie eine kleine Melodie. Vor ihr stand ein winziges Wesen – etwa so groß wie eine Tasse, mit einem Pilzhut, Moosbart und einer Brille aus Spinnennetzfäden.
„Ich bin Schnapp, Bibliothekar dritter Ordnung, Honigkuchensammler und – ganz wichtig – Willkommensbeauftragter.“
Maja musste lachen. „Ein Willkommensbeauftragter?“
„Natürlich. Jeder neue Besucher braucht jemanden, der ihn durch unsere Stadt führt. Es ist hier nämlich alles ein bisschen... na ja, ungewöhnlich.“
Und das war es wirklich. Maja staunte über Häuser, die bei Regen zu tanzen begannen, über Straßenlaternen, die Geschichten flüsterten, wenn man darunter stand, und über einen riesigen Platz, auf dem fliegende Teekannen Limonade servierten.
Die Bewohner der Stadt waren so verschieden wie Schneeflocken: winzige Schafwesen mit Seidenflügeln, Katzen mit Schnurrhaaren aus Licht, und ein alter Uhu, der nur rückwärts sprach.
Doch unter all dem Staunen spürte Maja auch etwas anderes. Eine leise Traurigkeit. Irgendetwas fehlte in dieser sonst so zauberhaften Stadt.
„Was ist los hier?“ fragte sie Schnapp, als sie sich auf einem schwebenden Kissen durch die Gassen treiben ließen.
„Der Funke ist verschwunden,“ sagte er leise. „Der Funke, der unsere Träume leuchten lässt. Ohne ihn verblasst die Stadt. Erinnerungen verschwinden, Farben werden blass, und selbst der Zimtduft ist nicht mehr derselbe.“
„Und warum ich?“
„Weil nur ein Kind, das noch an Wunder glaubt, ihn finden kann.“
So begann ihre Reise.
Sie durchquerten das Archiv der Flüstertiere – ein Ort, an dem jede Erinnerung ein kleines Tier war, das in einer gläsernen Kugel lebte. Sie fuhren mit einer Seifenblasenbahn durch das Gewächshaus der Lieder, wo Pflanzen sangen, wenn man sie streichelte. Und sie tauchten in das Marmeladenglasmeer, in dem winzige Boote aus Nussschalen trieben.
Doch der Funke blieb verschwunden. Bis sie eines Nachts, in der Mitte des flüsternden Waldes von Knisterfurt, auf ein kleines, vergessenes Haus stießen. Dort drinnen war es still. Staub lag auf den Dingen. Und Maja fühlte etwas tief in ihrem Herzen – ein Ziehen, eine Erinnerung.
Sie setzte sich auf ein altes Kissen, zog die Beine an und erinnerte sich. An ihre Oma, an die Geschichten unter der Sternendecke. An den Geruch von Kamillentee und Vanille, an das Gefühl, sicher zu sein. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und in dem Moment erschien er.
Ein winziges Licht. Zart und warm. Es flog durch die Luft, schwebte auf Maja zu und setzte sich auf ihre Hand. Der Funke.
Sofort begannen die Bäume draußen zu leuchten, wie Lichterketten aus Blüten. Ein Chor aus Singmäusen setzte ein, und über Knisterfurt erhob sich ein Strahlen, das selbst die Sterne am Himmel erröten ließ.
„Du hast ihn gefunden,“ flüsterte Schnapp, der plötzlich neben ihr stand. „Weil du dich an das Wichtigste erinnert hast – die Liebe, die in Geschichten wohnt.“
Als Maja am nächsten Morgen erwachte, lag sie in ihrem Bett. Der Schrank stand da, ganz still. Kein Licht, kein Glühen. Doch in ihrer Hand lag ein winziger, goldener Knopf – und er war warm.
Sie wusste: Knisterfurt war echt. Und sie konnte jederzeit zurückkehren. Solange sie weiter träumte.