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Das Hotel für wandernde Bücher - Gute-Nacht-Geschichte

  • Autorenbild: Michael Mücke
    Michael Mücke
  • vor 7 Tagen
  • 4 Min. Lesezeit

Lila steht vor dem Bücher Hotel

Es war spät am Abend, als der Himmel über dem großen Immerwald sich langsam violett färbte. Der Wind raschelte leise in den Baumkronen und das Licht der Sonne schimmerte wie flüssiges Gold durch das Geäst. Zwischen den Wurzeln der uralten Bäume, wo Moos so weich wie Kissen wuchs und winzige Glühwürmchen wie schwebende Sterne tanzten, stapfte ein kleines Mädchen namens Lila über einen kaum sichtbaren Pfad.


Lila war neun Jahre alt, hatte lockiges, dunkles Haar und ein neugieriges Herz, das gern in Dinge hineinspähte, die eigentlich geheim sein sollten. Ihre Eltern waren auf einem nahegelegenen Zeltplatz geblieben, doch Lila war, wie so oft, auf der Suche nach etwas Besonderem. Heute hatte sie einen seltsamen Wind bemerkt, der ein einzelnes Blatt wie eine Feder davongetragen hatte. Es war kein gewöhnliches Blatt. Es war aus Papier beschriftet mit einer Schrift, die aussah wie Spinnennetze aus Tinte.


„Vielleicht gehört es zu einem Buch“, hatte Lila gemurmelt und war ihm gefolgt.

Je tiefer sie ging, desto stiller wurde der Wald. Kein Vogel sang mehr, und selbst der Wind wurde leiser.


Schließlich stand sie vor einer schmalen Schlucht, in der Nebel aufstieg. Und dort, mitten in diesem Nebel, thronte ein Gebäude, das aussah, als wäre es aus alten Geschichten geschnitten worden: ein hochragendes, märchenhaftes Hotel aus dunklem Holz, glänzendem Kupferdach und Fenstern, die im Mondlicht funkelten wie Edelsteine.


Der Nebel wich zur Seite, als Lila näher trat. Auf dem Türschild stand in geschwungener Schrift: „Hotel für wandernde Bücher – Für Seiten, die noch Geschichten suchen.“


Lila spürte ein Kribbeln auf der Haut. Vorsichtig öffnete sie die Tür. Sofort umgab sie warme Luft, die roch nach Leder, Kaminrauch und einem Hauch von Vanille. Der Eingangsbereich war riesig – ein runder Saal mit einem gläsernen Dach, unter dem Bücher durch die Luft flogen, als hätten sie Flügel.


Manche kicherten, wenn sie sich begegneten, andere summten Melodien, die sich wie Wiegenlieder anhörten. Ein besonders dickes Buch mit samtrotem Einband flatterte auf sie zu und schwebte in Augenhöhe.


Es öffnete sich mit einem raschelnden Laut und sprach mit warmer, tiefer Stimme:

„Willkommen, Lila. Deine Geschichte wird erwartet.“

„Was ist das hier?“ fragte Lila mit großen Augen.


„Ein Zufluchtsort. Ein Heim für Bücher, die auf Reisen sind. Manche wurden vergessen, andere warten noch auf ihre letzten Kapitel. Und manchmal... bringt jemand wie du etwas mit, das alles verändert.“


Verwirrt, aber fasziniert, ließ sich Lila durch das Hotel führen. Sie entdeckte Zimmer mit Wänden aus flüsternden Seiten, Treppen, die sich bewegten, je nachdem, wohin man wollte, und einen Aufzug, der statt Knöpfen Fragen stellte wie: „Willst du ein Abenteuer? Eine Wahrheit? Oder ein Traum?“


In einem gemütlichen Salon lasen sich Bücher gegenseitig vor. Eines begann plötzlich zu weinen, weil sein Ende traurig war, woraufhin ein Gedichtband es tröstete mit Reimen über Hoffnung. In einem anderen Raum stand ein Globus, auf dem man die Reiserouten verlorener Geschichten verfolgen konnte kleine Lichtpunkte wanderten über Berge und Meere.


Doch je tiefer Lila vordrang, desto mehr bemerkte sie, dass nicht alles in Ordnung war. Einige Bücher hatten Eselsohren, die von Sorgen sprachen. Andere hatten vergessene Seiten – weiße Lücken, wo Wörter hätten sein sollen. Und das Leuchten in den Gängen flackerte, als würde das Hotel... krank werden.


Ein Buch mit silbernen Prägungen auf dem Einband kam zu ihr. Seine Stimme war zitternd, aber freundlich: „Ein Kapitel wurde gestohlen. Ein wichtiges. Aus dem Buch der Geschichten dem Herzstück dieses Hotels.“


„Was passiert, wenn es nicht zurückkehrt?“


„Dann hören die Geschichten auf zu wachsen. Das Hotel wird schweigen. Und alles, was es einmal war, wird verblassen.“


Ein kalter Schauer lief Lila über den Rücken. Sie beschloss, zu helfen – ohne genau zu wissen, wie. Das silberne Buch öffnete sich und zeigte ihr eine Karte, auf der sich Gänge bewegten wie Linien auf einer Landkarte aus Träumen.


Der Weg führte sie in das Versunkene Archiv einen unterirdischen Raum, in dem die Bücher auf Regalen standen, die sich in endlosen Spiralen verloren. Hier war es kühl, und jedes Buch atmete leise.


Manche hatten Spinnweben, andere summten Lieder aus vergangenen Jahrhunderten. Ein uraltes Buch erzählte ihr von einem Wesen, das einst selbst eine Geschichte war ein Schattenbuch, das vergessen wurde, weil niemand es zu Ende gelesen hatte.


„Es will nicht böse sein. Es will nur zurück.“


Als Lila den Spiegelsaal der ungeschriebenen Enden betrat, war alles still. Der Raum war riesig, ohne Decke, ohne Boden nur Spiegel in allen Richtungen. In jedem Spiegel sah sie eine andere Version von sich selbst: eine Lila, die mutig ein Schwert schwang, eine Lila, die zauberte, eine Lila, die einfach nur still las.


In der Mitte des Raumes schwebte das gestohlene Kapitel – zerrissen, schwärzlich, und umgeben von Dunkelheit. Vor ihm stand das Schattenwesen: eine Gestalt aus flatterndem Papier und Nebel.


Es sprach mit einer Stimme wie entferntes Donnergrollen:

„Ich war einst ein Buch. Man schlug mich nie wieder auf. Ich wurde vergessen… und so wurde ich Schatten.“


Lila trat langsam näher. „Ich sehe dich. Du bist nicht vergessen.“


Das Wesen zitterte. Seine dunklen Kanten begannen zu leuchten, schwach, wie ein Funke Hoffnung. „Wenn ich es vorlesen darf… vielleicht werde ich wieder ganz.“

Sie nickte. Das Wesen griff das Kapitel mit zittrigen Händen und begann zu lesen.


Die Worte waren alt, mächtig, und wunderschön. Sie erzählten von einer verlorenen Geschichte, die eine letzte Leserin brauchte. Mit jedem Satz wurde die Gestalt klarer – das Papier wurde hell, die Ränder wurden glatt, und am Ende stand da kein Schatten mehr, sondern ein Buch – schlicht, aber golden eingefasst.


Lila lächelte. „Willkommen zurück.“


Sie legte das Kapitel zurück in das große Buch der Geschichten, das tief im Herz des Hotels ruhte. Als sie das tat, leuchtete das ganze Gebäude auf. Regale begannen zu singen, vergessene Seiten kehrten zurück, und der Wind in den Gängen trug wieder Gedichte.


Ein letztes Mal sprach das silberne Buch zu ihr: „Danke, Lila. Du bist nun Teil unserer Geschichte.“


Als sie am nächsten Morgen aufwachte, lag sie am Waldrand, dort, wo das Gras besonders weich war. In ihren Armen lag ein kleines Buch mit goldener Prägung. Auf dem Einband stand in zarter Schrift: „Das Hotel für wandernde Bücher – Band Eins: Lila und das verlorene Kapitel.“


Und wenn du heute durch einen Wald wanderst, ganz leise bist und dein Herz voller Geschichten trägst, findest du es vielleicht auch – das Hotel, das nur jene sieht, die an Worte glauben.

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