Das Kleeblatt, das anders war als alle anderen - Gute-Nacht-Geschichte
- Michael Mücke

- 8. Juni
- 3 Min. Lesezeit

Es war einmal eine weite, friedliche Wiese, direkt hinter einem kleinen Dorf mit roten Dächern und weißen Zäunen. Die Wiese war so groß, dass selbst die ältesten Dorfbewohner nicht genau wussten, wo sie endete. An manchen Stellen blühten bunte Blumen, die im Sommer nach Honig rochen. Schmetterlinge flogen von Blüte zu Blüte, Bienen summten fröhlich und die Sonne malte goldene Muster auf das Gras.
Zwischen all dem Leben wuchs eine große Familie von Kleeblättern. Sie waren eng miteinander verbunden, standen dicht nebeneinander und sprachen oft miteinander, wenn der Wind sanft über sie hinwegstrich. Die meisten Kleeblätter hatten drei runde, saftig grüne Blätter, die sich bei jedem Windhauch leicht bewegten. Sie waren stolz darauf, so auszusehen, wie es Kleeblätter schon immer taten.
Doch eines Tages entfaltete sich ganz in der Mitte der Wiese ein kleines Kleeblatt, das anders war. Es hatte vier Blätter, nicht drei.
Das vierte Blatt war nicht nur ein wenig größer, sondern auch heller, fast so, als hätte ein Sonnenstrahl darin geschlafen.
Zuerst bemerkte niemand etwas. Das kleine Kleeblatt wuchs still und bescheiden zwischen seinen Nachbarn heran. Doch als es größer wurde, fingen die anderen an zu flüstern.
„Hast du das gesehen? Da ist eines mit vier Blättern!“
„So etwas habe ich noch nie gesehen! Ist das überhaupt normal?“
„Vielleicht ist es krank? Oder ein Fehler?“
Das besondere Kleeblatt hörte diese Stimmen. Es versuchte, nicht hinzuhören, doch die Worte kitzelten wie kalter Wind an seinem Stiel. Es war kein schönes Gefühl, anders zu sein, wenn alle anderen es ständig bemerkten.
An einem besonders sonnigen Tag kam ein neugieriges Kleeblatt namens Mimmi ganz nah heran. Mimmi war jung, verspielt und konnte nie still stehen.
„Warum hast du vier Blätter?“, fragte sie direkt.
Das Kleeblatt erschrak kurz, atmete tief ein und sagte sanft: „Ich weiß es wirklich nicht. Ich bin einfach so gewachsen.“
Mimmi sah es lange an, nickte dann und sagte: „Es sieht schön aus. Irgendwie besonders.“ Dann hüpfte sie weiter.
Trotzdem wurde das besondere Kleeblatt oft allein gelassen. Die anderen wollten es nicht böse meinen, doch sie wussten nicht, wie sie mit dem Anderssein umgehen sollten. Es fühlte sich ein wenig wie ein Regentropfen inmitten der Sonne: anders, kühl und einsam.
Eines Nachmittags, als die Wiese in warmes Gold getaucht war, näherte sich ein alter Schmetterling mit durchsichtigen, leicht zerknitterten Flügeln. Er hieß Balduin und war schon über viele Wiesen geflogen, durch Wälder und über Flüsse.
Als Balduin das vierblättrige Kleeblatt sah, blieb er stehen, legte seine Flügel zusammen und sagte mit freundlicher Stimme: „Guten Tag, mein kleines Kleeblatt. Du trägst etwas ganz Besonderes in dir.“
Das Kleeblatt blickte überrascht auf. „Aber ich bin doch nur... anders.“
Balduin lächelte mit seinen kleinen, schwarzen Augen. „Manche nennen das anders. Andere nennen es ein Wunder.“
„Ein Wunder?“, flüsterte das Kleeblatt.
„Ja. Weißt du, vierblättrige Kleeblätter gibt es nur ganz selten. In vielen Geschichten sagt man, sie bringen Glück – den Menschen, den Tieren und manchmal sogar den anderen Pflanzen.“
Das Kleeblatt dachte nach. Noch nie hatte es sich selbst als Glücksbringer gesehen.
„Aber warum fühle ich mich dann so einsam?“, fragte es leise.
Balduin setzte sich vorsichtig auf das vierte Blatt.
„Manchmal verstehen andere nicht gleich, was etwas bedeutet. Sie brauchen Zeit. Doch du musst wissen, dass deine Besonderheit kein Fehler ist. Sie ist ein Geschenk.“
Von diesem Tag an begann das Kleeblatt, sich langsam zu verändern – nicht im Aussehen, sondern im Herzen. Es wartete nicht mehr darauf, dass andere es zuerst ansprachen. Es grüßte freundlich, erzählte kleine Geschichten über die Wolken, die es sah, und hörte geduldig zu, wenn jemand traurig war.
Nach und nach kamen die anderen Kleeblätter zurück. Mimmi war die erste. Sie brachte drei andere mit, dann fünf, dann zehn. Bald war das besondere Kleeblatt nicht mehr allein. Es war mitten unter ihnen – nicht trotz, sondern wegen seiner vier Blätter.
Ein kleiner Marienkäfer, der jeden Morgen vorbeikam, setzte sich oft auf das vierte Blatt. Er sagte jedes Mal: „Hier fühlt sich die Welt ein bisschen weicher an.“
Ein Maulwurf, der abends durch die Wurzeln kroch, flüsterte einmal: „Ich habe noch nie so ein warmes Licht gespürt. Ich glaube, du strahlst von innen.“
Das Kleeblatt lächelte still. Es hatte nicht darum gebeten, besonders zu sein – aber es hatte gelernt, sein Licht nicht zu verstecken.
Eines Abends, als die Sonne langsam unterging und der Himmel in Rosa und Orange glühte, sagte Mimmi:
„Ich bin froh, dass du so bist, wie du bist. Weil du uns gezeigt hast, dass anders auch wunderschön sein kann.“
Das vierblättrige Kleeblatt sagte nichts. Es lächelte einfach nur und blickte in den Himmel, wo die ersten Sterne funkelten.
Und als die Nacht ganz still wurde und alle Kleeblätter ihre Blätter zusammenfalteten, flüsterte das besondere Kleeblatt in die Dunkelheit:
„Ich bin gut, so wie ich bin. Und das reicht.“
Dann schlief es ein, mit einem leisen, warmen Leuchten, das selbst die Träume der anderen ein wenig heller machte.
Ende.
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