Omas Knopfbox voller Erinnerungen - Gute-Nacht-Geschichte
- Michael Mücke
- 17. Mai
- 4 Min. Lesezeit

Es war ein goldener Sommer, als Clara wieder einmal zu ihrer Oma aufs Land fuhr. Die Fahrt dorthin war für sie jedes Mal ein kleines Abenteuer, vorbei an blühenden Wiesen, Wäldern, alten Bahnhöfen, an denen niemand mehr aus- oder einstieg, und schließlich die holprige Straße, die zum großen, verwitterten Haus am Ende der Allee führte.
Oma lebte allein in diesem alten Haus mit den schiefen Fensterläden, den knarzenden Holzdielen und dem Duft nach frischem Apfelkuchen und Kamillentee, der immer irgendwie in der Luft lag.
Jedes Möbelstück dort schien Geschichten zu erzählen – besonders der große Ohrensessel mit der gehäkelten Decke, der direkt unter dem Fenster stand. Und neben ihm, auf dem kleinen Tischchen, stand sie: die geheimnisvolle Knopfbox.
Schon seit Clara klein war, hatte sie diese Dose fasziniert. Eine große, runde Blechdose mit verblassten Rosen darauf, deren Deckel ein leises „Klick“ machte, wenn man ihn öffnete. Doch Oma hatte ihr immer gesagt, dass sie die Knopfbox erst gemeinsam öffnen würden, wenn Clara alt genug war, die Geschichten dahinter zu verstehen.
An einem dieser warmen Sommerabende, als draußen die Glühwürmchen tanzten und das Zirpen der Grillen wie eine leise Melodie durch das offene Fenster drang, saß Clara barfuß im Wohnzimmer, das Kinn auf die Knie gestützt, während Oma langsam ihren Strickkorb zur Seite legte.
„Clara, mein Herz,“ begann sie leise, „ich glaube, heute ist der richtige Abend.“
Claras Herz machte einen kleinen Hüpfer. „Wirklich?“ flüsterte sie.
Oma nickte, stand auf, nahm die Knopfbox mit beiden Händen und setzte sich zu ihr auf den weichen Teppichboden. Ganz feierlich stellte sie die Dose zwischen sich und Clara, drehte sie langsam einmal im Kreis – als wolle sie ein uraltes Geheimnis wecken – und öffnete sie mit einem sanften Klick.
Der Anblick war atemberaubend. Hunderte von Knöpfen, alle verschieden: glänzend, matt, bunt, aus Holz, Metall, Perlmutt, mit Mustern, ohne, winzige und riesige, runde, ovale, eckige. Jeder schien ein eigenes kleines Universum zu sein.
Oma griff nach einem schlichten, braunen Holzknopf.
„Diesen hier,“ begann sie, „habe ich von meinem allerersten Schulranzen. Ich war damals sehr aufgeregt – so klein wie du vielleicht mit fünf oder sechs. Meine Mutter hatte den Ranzen selbst genäht, aus grobem Stoff. Der Knopf hat ihn verschlossen. Ich erinnere mich noch, wie schwer er mir vorkam, und wie stolz ich war, damit zur Schule zu laufen.“
Clara nahm den Knopf in die Hand. Er war glatt, leicht abgerieben, aber noch fest. Er fühlte sich warm an, wie ein Schatz aus längst vergangenen Zeiten.
Dann griff Oma nach einem silbernen, fast spiegelnden Knopf.
„Der gehörte zu dem Mantel, den ich anhatte, als ich im Winter mit meinem Vater durch das verschneite Berlin gegangen bin. Es war Krieg, ich war ein Kind, und ich erinnere mich, wie ich seine Hand hielt, ganz fest, damit ich nicht verloren ging. Er hat mich unter den Arm genommen, als die Schneeflocken immer dichter fielen. Ich weiß noch, wie er sagte: ‚Bleib immer bei mir, meine Kleine. Dann kann dir nichts passieren.‘
Clara sah Oma an. Ihre Augen waren ein wenig feucht, aber sie lächelte.
„Das war ein schwerer Tag. Aber dieser Knopf erinnert mich nicht nur an Angst, sondern auch an Liebe. An Geborgenheit.“
Dann holte Oma einen ganz besonderen Knopf hervor – er war mit rotem Samt überzogen, ein wenig ausgefranst an den Rändern.
„Das war von meinem Lieblingsballkleid. Ich habe es selbst genäht. Es war der Abend, an dem ich mit deinem Opa zum ersten Mal getanzt habe. Er hatte zwei linke Füße, aber er hat so süß gestottert, als er mich gefragt hat, ob ich mit ihm tanzen möchte.“
„Und, hast du Ja gesagt?“ fragte Clara neugierig.
„Natürlich.“ Oma lachte leise. „Ich habe fast über seinen Fuß gestolpert, aber das war der Beginn von allem. Von unserem gemeinsamen Leben. Von deiner Mama. Von dir.“
Dann kam ein Knopf, der ganz anders war. Schwarz, schlicht, fast unscheinbar.
„Der stammt von dem Hemd meines Bruders, den wir verloren haben. Er war Musiker. Er hat Geige gespielt, wunderschön, so dass einem das Herz flatterte. Ich habe oft in seinem Zimmer gelauscht, wenn er spielte. Als er nicht mehr zurückkam, habe ich diesen Knopf aufbewahrt. Damit ich mich erinnern kann, wie seine Musik klang.“
Clara schwieg. Sie fühlte, wie wichtig dieser Knopf war. Wie viel Liebe und Schmerz darin lag.
Oma legte ihn behutsam zurück in die Dose und griff dann nach einem ungewöhnlich geformten, bunten Plastikknopf.
„Das war von deiner Mama, als sie im Kindergarten ihr erstes Kleid selbst bemalt hat. Weißt du, sie hat es mit Wasserfarben bestrichen, das ganze Kleid! Ich war völlig erschrocken, aber sie meinte: ‚Es ist jetzt ein Regenbogenkleid, Mama. Guck!‘ Und dieser Knopf war der einzige, der den Farben standhielt.“
Clara kicherte. „Das klingt genau wie Mama.“
„Ja. Und vielleicht wirst du eines Tages auch so ein Kleid bemalen. Oder nähen. Oder jemandem beim Knöpfen helfen, der ganz nervös ist.“
Dann nahm Oma einen ganz neuen, leuchtend blauen Knopf aus einer kleinen Tüte, die separat in der Box lag.
„Dieser Knopf gehört dir, Clara. Dein erster. Für deine eigene Knopfbox.“
Claras Augen wurden groß.
„Wirklich? Aber... ich hab doch noch keine Geschichten.“
„Doch,“ sagte Oma sanft. „Dieser Knopf stammt von deinem Lieblingskleid, das du jeden Sommer hier trägst. Mit den kleinen Einhörnern drauf. Und weißt du, was du neulich gesagt hast? ‚Wenn ich ein Einhorn sehe, dann weiß ich, dass der Tag schön wird.‘ Das ist eine Geschichte, mein Schatz. Deine Geschichte.“
Clara sah den Knopf lange an. Dann schloss sie ihn in ihre kleine Hand, als sei er ein Schatz. Und das war er auch. Ein Anfang. Ein Versprechen.
Die Knopfbox blieb noch lange zwischen ihnen stehen. Aber irgendwann, als die Grillen draußen verstummten und der Mond langsam über das Haus stieg, lehnte sich Clara müde an Omas Schulter.
„Oma?“ murmelte sie schläfrig.
„Hm?“
„Wenn ich groß bin, erzähl ich die Geschichten weiter. An meine Kinder oder Enkel, versprochen.“
„Das ist alles, was ich mir wünsche,“ flüsterte Oma.
Und während die Nacht langsam über das Haus am Waldrand glitt, schloss Clara die Augen. In ihrem Traum war sie auf einem riesigen, schimmernden Teppich aus Knöpfen unterwegs – jeder Knopf ein Schritt, jeder Schritt eine Geschichte.
Und mittendrin stand eine neue Dose, leer noch, aber bereit, mit Erinnerungen gefüllt zu werden. Schritt für Schritt. Knopf für Knopf. Geschichte für Geschichte.