Luma und das Geschenk des Lebens
- Michael Mücke
- 19. Nov. 2024
- 4 Min. Lesezeit

Tief im Ozean, wo die Wellen sanft über bunte Korallen streichen, lebte eine kleine Schildkröte namens Luma. Sie war abenteuerlustig und neugierig, immer auf der Suche nach neuen Geschichten und Entdeckungen. Doch an diesem Abend sollte Luma etwas erleben, das ihr Leben und das ihrer Unterwasserwelt für immer verändern würde.
Es war ein ruhiger Abend, und der Himmel malte sich in Rosa- und Orangetönen, als Luma bemerkte, dass sich in der Ferne etwas Unerwartetes bewegte. Es war ein kleines, schimmerndes Objekt, das sanft in der Strömung tanzte. „Was könnte das sein?“ murmelte sie und beschloss, ihm zu folgen.
Nach einigen Flossenschlägen erreichte Luma das schimmernde Objekt. Es war ein winziger Samen, eingehüllt in ein durchscheinendes Leuchten, als würde er selbst aus Licht bestehen. Als Luma näher kam, spürte sie eine angenehme Wärme, die von dem Samen ausging.
Plötzlich erklang eine Stimme – leise, fast wie ein Flüstern: „Ich bin Simi, der Samen des Lebens. Ich brauche deine Hilfe.“
Luma war überrascht, dass der Samen sprechen konnte. „Meine Hilfe? Wieso ausgerechnet ich?“ fragte sie.
„Ich bin weit gereist, durch Strömungen und Stürme, doch nun habe ich meine Kraft verloren,“ erklärte Simi. „Ich muss zu einem besonderen Ort gebracht werden – der verborgenen Wurzel. Nur dort kann ich wachsen und das Leben, das ich in mir trage, in die Welt bringen.“
Luma überlegte. Der Gedanke, eine so wichtige Aufgabe zu übernehmen, machte ihr ein wenig Angst. Doch sie spürte, dass Simi ihr vertraute. „Ich bringe dich dorthin,“ versprach sie.
Simi erklärte Luma den Weg: Die verborgene Wurzel lag tief in einem Teil des Ozeans, den kaum jemand je betreten hatte – der leuchtenden Schlucht. Dort, in einer geheimnisvollen Höhle, wuchs eine uralte Pflanze, deren Wurzeln magische Kräfte besassen. Es war der einzige Ort, an dem Simi sein volles Potenzial entfalten konnte.
Luma befestigte Simi vorsichtig auf ihrem Rücken und machte sich auf den Weg. Die Reise war lang und nicht ohne Herausforderungen. Sie durchquerten dichte Tangwälder, wo neugierige Fische versuchten, Simi näher zu betrachten, und mussten sich durch enge Korallengänge zwängen, die wie ein Labyrinth wirkten.
Eines Tages begegneten sie einem jungen Delfin namens Sora. „Wohin geht ihr?“ fragte er, als er Luma und den leuchtenden Samen bemerkte. Nachdem Luma ihm ihre Mission erklärt hatte, bot Sora sofort seine Hilfe an. „Ich kenne die Strömungen hier gut. Ich werde euch den schnellsten Weg zeigen!“
Nach vielen Tagen erreichten sie schliesslich die leuchtende Schlucht. Doch hier wurde das Wasser dunkler, und die Strömung wurde stärker. Die Felsen waren mit glühenden Algen bedeckt, die alles in ein grünliches Licht tauchten. Luma spürte, dass sie ihrem Ziel nahe waren. Doch plötzlich tauchte ein riesiger Schatten vor ihnen auf. Es war eine gigantische Muräne, die die Schlucht bewachte.
„Was habt ihr hier zu suchen?“ zischte sie bedrohlich.
Luma nahm all ihren Mut zusammen. „Wir müssen zur verborgenen Wurzel. Dieser Samen trägt neues Leben in sich, und es ist seine Bestimmung, dort zu wachsen.“
Die Muräne musterte sie mit ihren glühenden Augen. „Viele haben versucht, die Wurzel zu erreichen, doch nur wenige waren würdig. Was macht euch so besonders?“
Luma überlegte kurz und sagte dann: „Ich bin vielleicht klein und schwach, aber ich habe die Verantwortung übernommen, Simi zu helfen. Und ich werde nicht aufgeben, bis er sicher ist.“
Die Muräne sah sie noch einen Moment an, dann lächelte sie – oder zumindest sah es aus wie ein Lächeln. „Dann schwimmt weiter. Aber seid vorsichtig. Die Wurzel wird euch prüfen.“
Hinter der Schlucht fanden Luma und Sora schliesslich die Höhle, in der die verborgene Wurzel wuchs. Sie war gigantisch, mit Ästen, die wie Adern durch das Wasser pulsieren. Doch die Höhle war von einer durchsichtigen Barriere umgeben, die aussah wie eine zarte Luftblase. Luma wusste, dass sie hindurch musste, doch sie spürte, wie Simis Licht schwächer wurde.
„Ich weiss nicht, ob ich es schaffe,“ sagte sie leise.
Da sprach Simi zu ihr: „Luma, ich habe dich nicht gewählt, weil du die Stärkste oder Schnellste bist. Ich habe dich gewählt, weil dein Herz voller Mut und Mitgefühl ist. Glaube an dich.“
Ermutigt durch Simis Worte, schwamm Luma auf die Barriere zu. Sie spürte einen Widerstand, doch dann gab die Barriere nach, und sie glitt hindurch. Die Wurzel begann, in einem sanften, goldenen Licht zu erstrahlen, als sie näher kam. Luma platzierte Simi vorsichtig an ihrem Fuss.
Sobald der Samen die Wurzel berührte, geschah etwas Unglaubliches: Aus dem Samen wuchs eine winzige Pflanze, die rasch grösser wurde und sich verzweigte. Ihre Blätter leuchteten in allen Farben, und die Höhle begann, vor Leben zu pulsieren. Die Strömungen um sie herum wurden ruhiger, und es fühlte sich an, als würde der Ozean selbst aufatmen.
„Du hast es geschafft, Luma,“ sagte Simi, bevor er vollständig in der Pflanze aufging. „Dank dir wird neues Leben im Ozean entstehen, und die Harmonie wird bewahrt.“
Die Wurzel schenkte Luma ein leuchtendes Muster auf ihrem Panzer, dass sie für immer an ihre Aufgabe erinnern sollte. Als sie die Höhle verliess, bemerkte sie, dass das Licht der Pflanze weit in den Ozean strahlte und alles um sie herum zum Leuchten brachte.
Sora begleitete sie zurück zu ihrem Riff, wo ihre Freunde sie neugierig erwarteten. Luma erzählte ihnen von ihrer Reise und von Simi, dem Samen des Lebens. Und jedes Mal, wenn sie die glühenden Wurzeln am Horizont sah, wusste sie, dass sie dazu beigetragen hatte, den Ozean ein kleines Stück besser zu machen.
Ende.