Knirsch und Zupf und die verschwundene Zeit - Eine lustige Vorlesegeschichte für Kinder
- Michael Mücke
- 31. Juli
- 4 Min. Lesezeit

Knirsch und Zupf lebten hoch oben im alten Uhrenturm von Tick-Tack-Tal, einem Dorf, in dem alles nach der Uhr ging. Frühstück war um Punkt sieben. Die Vögel sangen um Viertel nach acht. Und selbst die Katzen machten Mittagsschlaf um exakt zwölf Uhr dreißig. Die Dorfbewohner trugen Uhren um die Handgelenke, um den Hals, auf den Hüten und sogar an den Schuhen.
Es war das wohl pünktlichste Dorf der Welt.
Der Uhrenturm, in dem die beiden Zwerge lebten, war ein wahres Wunderwerk aus Zahnrädern, Ketten, Federn und Pendeln. Knirsch hatte das meiste selbst zusammengebaut, oder zumindest zusammengeschraubt – auch wenn dabei manchmal etwas explodierte.
Überall tickte, klapperte und schnarrte es. Kleine silberne Glöckchen klingelten, wenn jemand die Treppe betrat, und ein riesiger Kuckuck sprang stündlich aus der Wand, um wichtige Zeitansagen zu machen.
Leider hatte Knirsch ihn etwas zu kreativ programmiert, denn manchmal rief er: „Kuckuck! Zeit zum Tanzen mit Gummistiefeln!“ oder „Kuckuck! Es ist Schnurrbartpolierzeit!“
An einem frischen Frühlingsmorgen saßen Knirsch und Zupf wie gewohnt beim Frühstück. Knirsch trank seinen Gänseblümchentee mit Schraubenzucker, während Zupf versuchte, seine Honigtoast-Stücke mit der Lupe zu zählen.
Plötzlich passierte es.
Ein leises Pffft ging durch den Turm. Dann – nichts. Kein Ticken. Kein Tock. Kein Kuckuck. Nicht mal das leise Surren des kleinsten Uhrwerkes war zu hören.
Zupf blickte irritiert auf seine Armbanduhr, die sonst nie stillstand. Der Sekundenzeiger bewegte sich nicht mehr. „Knirsch? Ich glaube… die Zeit ist weg.“
Knirsch horchte angestrengt. Dann sprang er auf. „Unmöglich! Mein Turm hat eine Notfall-Uhrensicherung!“ Er drückte einen großen roten Knopf mit der Aufschrift "Drück mich nur, wenn ALLE Zeit verloren geht."
Nichts geschah.
„Zupf... das ist ernst. Die Zeit ist tatsächlich verschwunden.“
„Aber wohin verschwindet Zeit denn?“ fragte Zupf. „Kann sie sich einfach davonstehlen wie ein flinker Waschbär?“
„Vielleicht ist sie beleidigt! Oder überarbeitet.“ Knirsch kratzte sich am Kopf. „Wir müssen sie finden. Ohne Zeit... bricht das ganze Tick-Tack-Tal zusammen!“
Also machten sie sich auf den Weg in die Turmwerkstatt. Dort bastelten sie an einer Erfindung, die ihnen helfen sollte: der Zeitfangmaschine.
Sie bestand aus einem Flötenwecker, zwei Zahnbürsten, einem Regenschirm, einem Kochtopf mit Antenne und einem Kompass, der nur nach innen zeigte. Wenn man das alles auf ein altes Fahrrad schraubte und mit Drachenspucke betrieb, sollte es klappen.
Nach mehreren knallenden Fehlstarts und einem fast abgebrannten Pudding gelang der Start.
Mit einem lauten „Zong-Krack-Frrrrr!“ schoss die Zeitfangmaschine los. Die Räder drehten sich rückwärts, dann spiralförmig. Knirsch und Zupf hielten sich aneinander fest, während um sie herum die Welt in Nebel, Zahnräder und verstreute Sekunden zersprang. Und dann – Plopp! – standen sie in einer Welt, wie sie sie noch nie gesehen hatten.
Das Land Ohne-Uhr.
Hier liefen Taschenuhren auf dünnen Beinchen umher und trugen Brillen. Eine Standuhr mit Hut wippte auf einem Schilfrohr und blies Seifenblasen. Alles schien verwirrend und... unkoordiniert. Die Sonne stand schräg am Himmel und blinkte manchmal wie eine Warnleuchte. Eine Kuckucksuhr saß in einem Baum und sang in Dauerschleife „Es ist gestern halb morgen!“
Zupf flüsterte: „Ich glaube, hier läuft nichts nach Plan.“
Ein riesiger Wecker rollte auf sie zu. Er hatte Augen, die müde blinzelten. „Zeit? Die ist auf Urlaub.“ sagte er träge. „Wollte sich mal ausruhen. Immer nur Ticken, Ticken, Ticken – das macht auf Dauer ganz rappelig.“
„Wo ist sie hin?“ fragte Knirsch.
„Nach Südwindland. Da gibt es keine Sekunden, nur Hängematten und Limonade.“ Der Wecker gähnte. „Aber passt auf. Ohne Zeit könnt ihr dort steckenbleiben!“
Mit einer Mischung aus Neugier und Sorgen fuhren Knirsch und Zupf weiter, tiefer in die Wirren der uhrlosen Welt. Sie begegneten einer sprechenden Eieruhr, die in einer Hängematte schnarchte, einem Chor aus Kuckucken, die nie aufhörten zu rufen, und einer Gruppe Minutenzeiger, die sich zu einem Limbo-Wettbewerb versammelt hatten.
Als sie schließlich die Grenze zu Südwindland erreichten, wurden sie von einem warmen Wind empfangen. Die Luft war voller Glockenblumenstaub. Hier war es friedlich. Keine Hektik. Kein Stress. Alles floss... langsam.
Und dort, zwischen zwei flauschigen Wolken, hing sie – die Zeit. Sie trug eine Sonnenbrille, einen Strohhut und nuckelte an einer Ananaslimonade.
„Hallo Zeit!“ rief Zupf. „Wir brauchen dich! Ohne dich steht die Welt still!“
Die Zeit blinzelte unter ihrer Brille hervor.
„Och nöö… Ich wollte doch nur ein paar Stündchen Pause machen. Ihr wisst ja nicht, wie anstrengend das ist – überall gleichzeitig zu sein! Immer pünktlich, immer getaktet. Ich bin fix und fertig.“
Knirsch nickte verständnisvoll.
„Klar, das verstehen wir. Aber ohne dich sind alle durcheinander. Niemand weiß mehr, wann Schlafenszeit ist. Und ohne Schlaf sind die Träume ganz verwuschelt.“
Die Zeit schwebte aus ihrer Hängematte. „Ihr meint... die Kinder träumen nicht mehr ordentlich?“
„Und niemand backt Kuchen rechtzeitig!“ ergänzte Zupf. „Die Gänseblümchentees sind zu stark geworden. Manche Dorfbewohner schlafen mittags ein und stehen nachts auf, um Gänseblümchen zu zählen.“
Die Zeit seufzte. „Na gut... aber ich will künftig sonntags frei haben. Keine Termine, keine Ticks, kein Tock. Nur ich, ein Sonnenstuhl und vielleicht ein Hörspiel.“
„Abgemacht!“ riefen die Zwerge.
Ein leuchtender Sog erfasste sie. Sekunden, Minuten und Stunden wirbelten wie Glühwürmchen um sie herum. Dann landeten sie mit einem Plopp! zurück im Uhrenturm. Die Uhren sprangen wieder an. Der Kuckuck rief laut: „Kuckuck! Es ist genau die richtige Zeit für ein Nickerchen!“
Tick-Tack-Tal funktionierte wieder. Und von diesem Tag an hatte die Zeit sonntags frei. Niemand störte sie dann. Kein Kuckuck, kein Minutenzeiger. Nur Ruhe, Limonade und ein bisschen Wolkenmusik.
Knirsch und Zupf saßen abends auf dem Balkon, der Wind raschelte durch die Zahnräder, und die Sterne funkelten friedlich.
„Weißt du, Zupf, ich glaube, man sollte der Zeit manchmal auch Zeit geben.“
„Ja. Und sich selbst auch.“ sagte Zupf und gähnte.
Dann kuschelten sie sich unter ihre Zahnraddecken, ließen die letzte Glocke des Tages bimmeln – und schliefen ein. In aller Ruhe. Ganz ohne Eile.
Denn jetzt war wieder Zeit dafür.