Im Land der Traumwale - eine Kinder Gute-Nacht-Geschichte
- Michael Mücke

- 21. Nov.
- 4 Min. Lesezeit

Im Land der Traumwale begann jede Nacht mit einem tiefen Atemzug des Meeres, das sich dann wie eine riesige schlafende Kreatur ausbreitete und sanft in der Dunkelheit glitzerte. Das Wasser funkelte im fahlen Licht der Sterne, und die Luft duftete nach Salz und entfernten Geschichten, die weit über den Horizont getragen wurden.
Eine zarte Brise strich über den Strand und ließ den feinen Sand tanzen, als wollte die Nacht selbst ein Zeichen geben, dass etwas Bedeutendes bevorstand. In dieser besonderen Nacht war das Meer außergewöhnlich ruhig, fast so als lauschte es auf eine unsichtbare Melodie.
Lior, der junge Wanderer am Strand, war schon immer empfänglich für solche leisen Zeichen. Seine Augen schauten wach und sanft auf die Wasseroberfläche, während er seinen Füßen erlaubte, Spuren im feuchten Sand zu hinterlassen.
Die Sterne spiegelten sich in seinen Pupillen und ließen ihn wie einen stillen Beobachter wirken, der bereits wusste, dass die Nacht ihm etwas zeigen wollte. Sein Atem ging ruhig, doch sein Inneres vibrierte wie ein gespanntes Seil, das jeden Moment in Schwingung geraten könnte.
Das leuchtende Flimmern auf dem Meer erschien zuerst wie ein kleiner silberner Fleck, der sich in den Wellen verfangen hatte. Lior blinzelte und trat näher, weil dieses Licht ungewöhnlich klar und tief wirkte. Der silberne Schimmer wuchs, pulsierte und breitete sich aus, bis die gesamte Bucht in weiches Licht getaucht war.
Der Boden unter Liors Füßen vibrierte sanft, als würde das Meer selbst sprechen und einen uralten Gruß aussprechen. Lior blieb stehen und wartete aufmerksam, ohne genau zu wissen, weshalb er dieses Licht so vertraut empfand.
Aus der Tiefe der Bucht erhob sich ein gewaltiger Körper, der zuerst wie ein dunkler Schatten wirkte, dann jedoch in majestätischem Glanz erschien. Der Traumwal tauchte auf und streckte seine riesigen Flossen dem Himmel entgegen, während sein Körper im sanften Glühen vibrierte.
Sein Atem klang wie ein tiefer Ruf aus einer anderen Welt, weit entfernt und doch so nah, dass Lior ihn deutlich fühlen konnte. Die Wassertropfen auf der Haut des Wals wirkten wie kleine Sterne, die sich für einen Moment auf der Oberfläche ausruhten.
„Wanderer der Nacht, höre meine Stimme“ erklang die sanfte und dennoch mächtige Sprache des Wals. Lior spürte, wie die Worte nicht nur an seine Ohren drangen, sondern sich auch wie warme Wellen in seinem Inneren ausbreiteten.
Der Wal senkte seinen Kopf leicht, als wolle er dem Jungen Ehre erweisen. Aus der Tiefe folgten weitere Traumwale, die wie riesige schweigende Wächter wirkten und die gesamte Bucht in ein stilles Licht tauchten.
„Du beobachtest das Meer mit offenen Augen und ruhiger Seele“ sagte der zweite Wal in sanften Tönen. „Wir haben deine stillen Gedanken gehört und möchten dir die Welt zeigen, die jenseits deiner Sicht lebt.“ Lior atmete tief ein und spürte eine vertraute Wärme, die ihm Mut schenkte obwohl das Wort nicht ausgesprochen wurde.
Die Traumwale ordneten sich langsam in einem Kreis an, und der große Wal in der Mitte legte seine riesige Flosse so tief ins Wasser, dass eine klare Rampe entstand.
„Komm zu uns und folge unserem Ruf“ sagte der größte Wal mit ruhiger Stimme. Lior trat vorsichtig vor, spürte das kühle Wasser an seinen Knöcheln und stieg langsam auf den Rücken des gewaltigen Wesens.
Die Oberfläche fühlte sich überraschend warm und glatt an, fast wie ein ruhiger Atemzug. Der Wal senkte sich sanft und glitt mit Lior in die Tiefe, begleitet von den anderen Traumwalen, die ein schimmerndes Lichtnetz um sie webten.
Unter der Oberfläche änderte sich die Welt vollständig. Weiches Licht schwebte wie lebendige Strahlen durch das Wasser und wogte um sie herum, als würde es eigene Gedanken besitzen.
Lior sah leuchtende Gestalten, die wie Erinnerungen durch das Wasser glitten und sich in farbigen Fäden verteilten. Diese Lichtfäden formten Bilder und Szenen, die sich ständig veränderten und neue Formen bildeten.
„Dies sind die Wege der schlafenden Gedanken“ erklärte der große Wal mit einer Stimme, die tiefer klang als das Meer. „Jeder träumende Geist sendet seine Bilder hierher, und wir führen sie an ihren Platz, damit sie wachsen können.“
Lior fühlte sich schwerelos und gleichzeitig tief verbunden mit allem, was er sah. Die Wale glitten ruhig zwischen den Lichtwegen hindurch, und jedes Flossenschlagen ließ neue Funken entstehen, die wie kleine flüsternde Sterne im Wasser tanzten.
Die Reise führte Lior in eine riesige unterseeische Halle, die komplett aus hellem Licht bestand. Der Boden war glatt und spiegelnd, und die Decke schimmerte wie die Oberfläche eines stillen Sees. Schwebende Kugeln aus Licht kreisten in ruhigen Bahnen und wechselten langsam ihre Farben, während sie Geschichten erzählten, die uralt und dennoch lebendig wirkten.
„Hier ruhen die ältesten Träume, die je gesprochen wurden“ sagte der erste Wal. „Sie zeigen uns, wie die Welt sich verändert und wie jede Vision ihren Platz findet.“
Lior betrachtete die Kugeln, die kleine Szenen zeigten, die das Leben von Menschen, Tieren und fernen Welten widerspiegelten. Jede Kugel schien wie ein eigenes kleines Universum zu wirken, das von den Traumwalen bewacht und begleitet wurde.
Nach einer langen Zeit, die sich wie ein großer stiller Fluss anfühlte, wendeten die Traumwale sich wieder dem Ausgang dieser Halle zu. Sie brachten Lior durch weich schimmernde Tunnel zurück an die Wasseroberfläche. Als sie den Strand erreichten, glühte der Himmel bereits in einem sanften Morgenton, und das Meer bewegte sich ruhig wie in tiefem Schlaf.
Der große Wal senkte sich ein letztes Mal und ließ Lior behutsam auf den warmen Sand gleiten. „Bewahre die Bilder dieser Nacht in deinem Denken“ sagte er sanft. „Sie werden dich begleiten wann immer du sie brauchst.“
Lior sah zu den gewaltigen Gestalten, die langsam wieder in die Tiefe glitten. Die Wasseroberfläche schloss sich ruhig über ihnen, und nur ein leiser Schimmer blieb wie eine Erinnerung zurück.
Der Junge stand lange am Strand und lauschte dem Meer, das wieder sein gewohntes leises Lied sang. Schließlich kehrte er in sein Dorf zurück und wusste in jedem seiner Schritte, dass die Welt größer und wunderbarer war als alles, was er je geahnt hatte.




