Die Reise von Lilas Lieblingsbaum - eine emotionale, herzliche Gute-Nacht-Geschichte
- Michael Mücke

- 7. Sept.
- 4 Min. Lesezeit

Es war einmal ein kleines Mädchen namens Lila, das in einem ruhigen Dorf am Rande eines großen Waldes lebte. Jeden Tag nach der Schule lief sie den kleinen Weg entlang, der sie direkt zu ihrem Lieblingsplatz führte. Dort stand ihr Baum, hoch, stolz und doch voller Wärme.
Er hatte eine Krone, die so weit ausgebreitet war, dass man darunter stehen konnte, ohne dass auch nur ein Tropfen Regen auf einen fiel. Lila liebte diesen Ort so sehr, dass sie oft schon vor dem Frühstück an ihn dachte. Sie flüsterte leise: „Heute komme ich wieder zu dir.“
Der Baum war nicht nur irgendein Baum. Für Lila war er wie ein Freund, der ihr zuhörte, wenn sie ihm Geschichten erzählte. Wenn sie traurig war, legte sie ihren Kopf an den Stamm, und sie fühlte, wie die Rinde sie tröstete.
An heißen Sommertagen saß sie auf einer der breiten Wurzeln, aß ihr Brot und lauschte dem Wind, der durch die Blätter rauschte. Manchmal glaubte sie sogar, dass der Baum antwortete, wenn sie ihm etwas erzählte. Dann sagte sie oft: „Ich weiß, dass du mich verstehst.“
Im Frühling bestaunte sie die kleinen Knospen, die aus den Zweigen sprangen. Sie roch den frischen Duft, der die Luft erfüllte, und freute sich über jedes neue Blatt. Im Sommer genoss sie den Schatten, den er spendete, und hörte dem Summen der Bienen zu, die zwischen den Ästen hin- und herflogen.
Im Herbst sammelte sie die bunten Blätter, die sanft zu Boden segelten, und malte daraus Bilder. Und im Winter besuchte sie ihn, auch wenn er still und kahl dastand. Sie legte ihre Hände an die kalte Rinde und sagte: „Ich bin bei dir, auch wenn du schläfst.“
Doch eines Tages bemerkte Lila etwas Merkwürdiges. Die Blätter waren nicht mehr so grün wie sonst. Einige wurden viel zu früh braun, andere hingen kraftlos an den Zweigen.
Lila runzelte die Stirn und fragte ganz leise: „Bist du krank, mein Freund?“ Sie spürte, dass etwas nicht stimmte, doch der Baum schwieg. Sie redete ihm gut zu, sang Lieder und hielt seine Rinde fest, in der Hoffnung, dass er sich erholen würde.
Die Wochen vergingen, und der Baum verlor mehr und mehr seine Kraft. Die Blätter fielen schneller, die Äste wurden schwächer, und der Stamm fühlte sich nicht mehr so lebendig an wie früher. Lila wollte glauben, dass es nur eine schwere Zeit war, doch tief in ihrem Herzen wusste sie, dass ihr Freund sich verabschiedete.
Eines Morgens kam sie wieder zu ihm, doch diesmal war alles stiller als sonst. Der Baum stand da, ohne Leben, ohne Kraft. Lila setzte sich an seine Wurzel, drückte ihr Gesicht an die Rinde und flüsterte: „Bitte bleib bei mir.“ Doch der Baum war gegangen.
Tränen liefen über ihre Wangen, und sie fühlte sich einsamer als je zuvor. Sie dachte, sie hätte ihren einzigen Freund verloren. Doch dann hörte sie ein leises Zwitschern. Ein kleiner Vogel hatte sich auf einem kahlen Ast niedergelassen. Er schaute Lila an und begann zu singen. Sein Lied war sanft, tröstend und voller Wärme.
Lila lauschte lange, bis sie leise sagte: „Du bist auch hier, weil er es will.“ Da verstand sie zum ersten Mal, dass der Baum nicht ganz verschwunden war. Er lebte weiter – im Gesang der Vögel, im Rauschen des Windes, im Schatten, den andere Bäume noch spenden konnten.
Von diesem Tag an begann Lila, Geschichten über ihren Baum aufzuschreiben. Sie erzählte ihren Eltern, wie er sie beschützt hatte, wenn sie Angst hatte. Sie berichtete ihren Freunden, wie er im Sommer wie ein Zelt aus Blättern über ihr gestanden hatte.
Und sie lachte, wenn sie davon sprach, dass er manchmal so wirkte, als würde er antworten. Mit jedem Wort, das sie über ihn sagte, fühlte sie sich leichter. Sie flüsterte: „Solange ich deine Geschichte erzähle, bist du bei mir.“
Einige Tage später nahm Lila die schönsten Blätter, die sie noch unter dem Baum gefunden hatte. Sie legte sie vorsichtig in ein dickes Buch, damit sie trocken und haltbar wurden. Aus manchen Blättern bastelte sie kleine Bilder, die sie an ihre Wand hing.
Jedes Blatt erinnerte sie an einen Moment mit ihrem Freund: an den Sommerregen, den sie gemeinsam erlebt hatten, oder an den ersten Schnee, der sich auf seine Äste legte. Sie sagte: „Du bist jetzt überall bei mir.“
In einer Nacht träumte Lila, dass sie wieder unter dem Baum saß. Doch diesmal war er groß, stark und voller Leben. Seine Krone glänzte, und er sprach zu ihr mit einer Stimme, die wie das Rauschen vieler Blätter klang: „Ich bin nicht fort, Lila. Ich bin in deinem Herzen, in den Geschichten, die du erzählst, und in allem, was du liebst.“ Als Lila erwachte, fühlte sie keinen Schmerz mehr, sondern Trost und Zuversicht.
Von da an ging sie oft zu dem Platz, an dem der Baum gestanden hatte. Sie setzte sich auf seine Wurzeln, schaute in den Himmel und erzählte weiter ihre Geschichten. Manchmal kamen andere Kinder dazu, hörten ihr zu und sagten, dass sie den Baum fast selbst kannten. Lila lächelte dann und flüsterte: „Jetzt bist du noch größer, weil dich so viele Menschen in ihrem Herzen tragen.“
So lernte Lila, dass Dinge, die verschwinden, niemals wirklich weg sind, solange jemand an sie denkt. Ihr Baum lebte weiter in Liedern, Erinnerungen, Bildern und in der Liebe, die sie für ihn empfand. Und jedes Mal, wenn der Wind sanft durch die Bäume rauschte, hörte Lila eine vertraute Stimme sagen: „Ich bin immer bei dir.“




