Die Prinzessin, die lieber Piratin sein wollte - Gute-Nacht-Geschichte
- Michael Mücke
- 22. Juni
- 5 Min. Lesezeit

Es war einmal in einem fernen Königreich am Rande eines glitzernden Meeres, eine Prinzessin namens Liora. Sie war acht Jahre alt, trug ihre goldenen Locken meist zerzaust und hatte Sommersprossen auf der Nase, die aussahen wie winzige Sterne.
Liora lebte in einem wunderschönen Schloss aus hellem Sandstein, mit Türmen, die bis in die Wolken ragten, bunten Glasfenstern und einem Rosengarten, der nach Zimt und Zitronen duftete.
Jeden Morgen weckte sie das Kreischen der Möwen, das durch ihr Fenster wehte. Und jeden Morgen, bevor die Hofdamen sie in feine Seide steckten und mit goldenen Kämmen durch ihr Haar strichen, rannte sie barfuß auf den Balkon. Von dort sah sie auf das große, blaue Meer hinaus, wo die Schiffe mit ihren weißen Segeln wie Vögel über die Wellen glitten.
„Dort draußen fängt das Leben an,“ flüsterte sie leise, während sie die Segel beobachtete.
„Ich will kein Thronzimmer. Ich will ein Deck unter meinen Füßen und Wind in meinem Gesicht.“
Doch im Schloss hatte man andere Pläne. Liora sollte höfisch tanzen lernen, lernen, wie man Gäste begrüßt, und wie man höflich nickt, wenn alte Fürsten von früheren Zeiten erzählen. Es gab Unterricht in Geschichte, Tischsitten und königlicher Etikette. Jeden Tag saß sie aufrecht auf einem Stuhl mit gerader Lehne, während ihre Gedanken weit hinaus aufs Meer segelten.
„Prinzessinnen reiten auf Einhörnern, nicht auf Piratenschiffen!“, rief ihre Gouvernante eines Tages, als Liora zum fünften Mal ein Buch über Seefahrer unter ihr Kissen geschmuggelt hatte.
Aber Liora lachte nur und sagte: „Ich reite lieber auf einem Delfin.“
Ihr Vater, der König, war ein ruhiger Mann mit einem langen, braunen Bart und einem ernsten Blick. Er glaubte an Regeln, Verantwortung und Tradition.
Ihre Mutter, die Königin, war freundlich und weise, aber auch sehr besorgt um Lioras Sicherheit. Sie wollte, dass ihre Tochter vorbereitet war, um eines Tages das Königreich zu führen.
„Aber was ist mit meinem eigenen Leben?“, fragte Liora einmal am Abendbrottisch.
„Ich möchte mein eigenes Abenteuer haben, nicht nur Anweisungen folgen.“
Der König seufzte schwer. „Einmal wirst du das verstehen, meine Tochter. Verantwortung ist auch ein Abenteuer – nur ein anderes.“
Doch Liora war sich sicher: Ihr Abenteuer roch nach Salz, nicht nach Parfüm. Es war laut, wild, frei und voller Überraschungen.
In ihrem Zimmer hatte sie eine geheime Schatzkiste unter dem Bett. Darin lagen Dinge, die sie auf dem Markt gestohlen – oder wie sie sagte: gerettet – hatte: ein kleiner Kompass, ein Seil, ein Fernrohr aus Holz, eine Karte, die sie selbst gezeichnet hatte, und ein alter Piratenhut, den sie aus Filz und Pappe gebastelt hatte.
Eines Morgens, als der Himmel so klar war, dass man die Schatten der Möwen auf dem Pflaster sehen konnte, entschloss sich Liora, zu gehen.
Sie stand früh auf, zog sich ihre Reithose an, schnitt mit einer Schere das lange Kleid kurz und band sich ein rotes Halstuch um den Kopf. Sie war leise wie eine Katze, als sie die Küche durchstöberte und Äpfel, Brot und Käse in einen Sack stopfte. Dann schlich sie zum Turmfenster, warf ein Seil aus und kletterte vorsichtig hinab.
Unten rannte sie über den stillen Schlossgarten, durch ein Tor, das nur der alte Gärtner benutzte, und den Weg entlang bis zum Hafen.
Dort lag, versteckt zwischen zwei großen Handelsschiffen, ein altes Fischerboot, das niemand mehr benutzte. Es war grau, mit abgeplatztem Lack und einer kleinen Kajüte, die nach Seetang roch. Für Liora war es das schönste Schiff der Welt.
„Dich nenn ich Die Windwölfin!“, sagte sie stolz und begann, das Boot seeklar zu machen. Sie entwirrte das Tau, zog das Segel hoch – so gut es ging – und ließ das Boot vom Kai abstoßen. Der Wind half ihr. Und das Meer hieß sie willkommen.
Die ersten Tage auf dem Wasser waren ein Traum. Sie segelte an kleinen Inseln vorbei, entdeckte bunte Fische und freundete sich mit einer Möwe an, die sie „Sir Federbart“ nannte.
Sie lernte, wie man das Segel strafft, wie man mit dem Wind fährt und wo man am besten ankert. Wenn es Abend wurde, warf sie ihren Anker nahe einer Küste und schlief unter den Sternen, eingewickelt in eine Decke, mit dem Plätschern der Wellen im Ohr.
„Ich bin frei. Ich bin ich,“ murmelte sie jede Nacht.
Eines Tages aber, als der Himmel sich plötzlich verdunkelte und der Wind wütend über das Meer fegte, geriet Liora in einen Sturm. Die Wellen türmten sich wie Berge. Der Regen peitschte auf das Deck.
Ihr Segel zerriss mit einem lauten Knall, das Boot schwankte heftig. Liora hielt sich am Steuer fest, ihre Hände zitterten, aber sie schrie gegen den Wind:
„Ich bin Käpt’n Liora! Ich hab keine Angst vor dir, Sturm!“
Doch der Sturm war stärker. Eine besonders hohe Welle schleuderte das Boot gegen die Felsen einer kleinen Insel. Die Planken krachten, Wasser drang ein, und Liora wurde an Land gespült.
Sie war durchnässt, erschöpft und fror. Unter einer umgestürzten Palme kauerte sie sich zusammen, drückte Sir Federbart an sich und flüsterte:
„Vielleicht… bin ich doch keine echte Piratin.“
Doch kurz bevor sie einschlief, hörte sie Rufe, vertraute Stimmen. Dann sah sie am Horizont ein großes Schiff mit königlicher Flagge. An der Reling stand ihr Bruder Thilo, der älteste der drei königlichen Geschwister, mit einem Fernglas in der Hand.
„Da ist sie! Liora! Ich seh sie!“
Sie wurde gerettet, liebevoll in Decken gehüllt und auf das große Schiff gebracht. Dort warteten heißer Tee, trockene Kleidung – und eine Überraschung.
„Ich hab’s gewusst, dass du auf Abenteuer aus bist,“ sagte ihr Bruder und lächelte. „Also hab ich Papa überredet, ein Schiff für dich zu bauen. Ein echtes. Mit allem, was du brauchst. Es ist bald fertig.“
Liora riss die Augen auf. „Für mich? Ein Piratenschiff? Wirklich?“
„Nicht irgendein Schiff,“ sagte ihre Mutter, als sie sie später im Schloss umarmte. „Ein Entdeckerschiff. Für eine Prinzessin, die auch Piratin sein darf.“
Und so kam es, dass Liora von nun an beides war: Prinzessin und Piratin. An normalen Tagen kümmerte sie sich um das Königreich, hörte sich die Sorgen der Menschen an, sprach mit Handwerkern, Bauern und Kindern.
Aber in den Ferien segelte sie mit jungen Abenteurern über das Meer, half dabei, kleine Schätze zu finden, meist schöne Steine, Muscheln oder Geschichten und brachte allen bei, dass man mehr als nur eine Sache im Leben sein kann.
„Ich bin Liora,“ sagte sie immer dann. „Ich bin wild. Ich bin mutig. Ich bin frei. Und ich bin ich.“
Und wenn sie abends in ihrem Zimmer lag, mit dem Rauschen des Meeres im Ohr, schlief sie glücklich ein – denn sie wusste, dass das größte Abenteuer nicht irgendwo draußen beginnt, sondern im eigenen Herzen.
Ende.
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