Die Prinzessin, der Vogel und der Düsterwald - Gute-Nacht-Geschichte
- Michael Mücke
- 13. Juni
- 4 Min. Lesezeit

Es war einmal in einem weit entfernten Königreich, das von grünen Wäldern und blühenden Wiesen umgeben war. Dort lebte eine Prinzessin namens Alina. Alina war nicht wie andere Prinzessinnen, die in prächtigen Palästen blieben und sich von Hofdamen bedienen ließen. Sie liebte die Natur, die Tiere und die Freiheit, durch die Wälder zu streifen.
Doch ihr Vater, der König, war sehr besorgt. „Der Wald ist voller Geheimnisse, Alina,“ sagte er oft. „Es gibt dort Dinge, die wir nicht verstehen. Bleib in der Sicherheit des Schlosses.“
Doch eines Abends, als die Sterne funkelten und der Mond hell leuchtete, schlich sich Alina aus dem Schloss. Sie trug ihren Umhang aus schimmerndem Silberstoff, der im Mondlicht glitzerte, und nahm nur eine kleine Laterne mit.
Im Wald hörte sie plötzlich einen melodischen Vogelgesang, wie sie ihn noch nie zuvor gehört hatte. Es war ein Klang, der sie direkt in ihr Herz traf. Neugierig folgte sie dem Gesang tiefer in den Wald hinein. Bald bemerkte sie, dass sie von anderen Tieren begleitet wurde.
Ein kluger Fuchs mit rotbraunem Fell schlich neben ihr her, ein scheuer Hirsch mit großen, sanften Augen hielt Abstand, und eine kleine Haselmaus saß auf ihrer Schulter. Die Tiere schienen zu wissen, wohin der Vogel sie führen wollte.
„Habt ihr auch diesen Ruf gehört?“ flüsterte Alina den Tieren zu. Der Fuchs nickte, als würde er sie verstehen.
Nach einer Weile erreichte Alina eine Lichtung, die von einem geheimnisvollen goldenen Licht erfüllt war. In der Mitte der Lichtung saß ein prachtvoller Vogel mit goldenem Gefieder. Er war nicht größer als eine Taube, aber seine Augen funkelten wie kleine Sonnen.
„Prinzessin Alina,“ sprach der Vogel mit einer sanften, aber klaren Stimme. „Ich habe auf dich gewartet.“
„Auf mich?“ fragte Alina überrascht.
„Ja,“ antwortete der Vogel. „Dieser Wald ist in Gefahr. Ein dunkler Schatten hat begonnen, das Leben hier zu vertreiben. Pflanzen welken, Tiere fliehen, und selbst der Wind traut sich kaum noch, durch die Bäume zu wehen. Nur eine Person mit einem reinen Herzen kann uns retten. Und diese Person bist du.“
Der Vogel erzählte Alina, dass sie den ältesten Baum des Waldes finden müsse, einen Baum so alt wie die Zeit selbst. „Er ist der Wächter des Waldes,“ erklärte der Vogel. „Doch der Schatten hat ihn zum Schweigen gebracht. Du musst ihm seine Stimme zurückgeben.“
Alina war entschlossen, zu helfen, und mit dem goldenen Vogel auf ihrer Schulter und den Tieren an ihrer Seite machte sie sich auf den Weg. Sie gingen durch dichte Wälder, über plätschernde Bäche und vorbei an leuchtenden Blumen, die wie kleine Sterne funkelten. Die Tiere halfen ihr, den Weg zu finden.
Der Fuchs führte sie durch die verworrenen Pfade, der Hirsch trug sie über einen tiefen Fluss, und die Haselmaus fand Beeren, wenn Alina hungrig war.
Bald jedoch spürten sie die Nähe des Schattens.
Die Luft wurde kälter, und ein unheimliches Flüstern erfüllte den Wald. Die Tiere blieben stehen, ihre Augen suchten ängstlich die Dunkelheit ab. Selbst der goldene Vogel zitterte leicht.
„Der Schatten weiß, dass wir kommen,“ flüsterte der Vogel. „Wir dürfen nicht aufgeben. Deine Stärke wird uns leiten, Prinzessin.“
Mit klopfendem Herzen ging Alina weiter, die Laterne fest in ihrer Hand haltend. Plötzlich erhob sich vor ihnen eine dunkle Gestalt, größer als die höchsten Bäume und so schwarz wie die tiefste Nacht. Es war der Schatten, der Wächter des Waldes in seiner eisernen Umklammerung hielt.
„Wer wagt es, mich zu stören?“ dröhnte die Stimme des Schattens, die wie ein Donner durch den Wald hallte. Die Tiere wichen zurück, doch Alina trat mutig vor.
„Ich bin Prinzessin Alina,“ sagte sie, ihre Stimme fest, obwohl ihr Herz raste. „Ich bin hier, um den Wald zu retten. Lass den alten Baum frei!“
Der Schatten lachte kalt. „Was kannst du, ein schwaches Mädchen, gegen meine Macht ausrichten? Der Wald gehört mir, und bald wird er sterben.“
Doch Alina ließ sich nicht einschüchtern. Sie dachte an die Schönheit des Waldes, an die Tiere, die sie begleitet hatten, und an das Leben, das gerettet werden musste. Sie hielt die Laterne hoch, und plötzlich begann ihr silberner Umhang zu leuchten, als würde er das Licht der Sterne einfangen.
Das Licht breitete sich aus und berührte die Dunkelheit des Schattens. Der Schatten schrie auf und zog sich zurück, doch er ließ nicht los. „Deine Kraft allein reicht nicht aus, Prinzessin!“ rief der Vogel. „Doch zusammen sind wir stärker.“
Die Tiere traten nun vor. Der Fuchs, der Hirsch, die Haselmaus und viele andere Tiere des Waldes gesellten sich zu ihnen.
Sie alle bildeten einen Kreis um den Schatten. Der goldene Vogel begann zu singen, und sein Lied war so schön, dass selbst die Bäume ihre Äste neigten, um zuzuhören. Die Dunkelheit begann zu schwinden, und der Schatten wurde schwächer.
„Nein!“ schrie der Schatten. „Ihr könnt mich nicht besiegen!“ Doch Alina hielt die Laterne noch höher und rief: „Dieser Wald gehört nicht dir! Er gehört allen Lebewesen, die hier leben!“
Mit einem letzten hellen Strahlen löste sich der Schatten auf, und die Dunkelheit verschwand. Der Wald war wieder ruhig, und ein sanfter Wind wehte durch die Bäume.
In der Mitte der Lichtung erschien plötzlich der alte Baum. Seine Rinde war von silbernen Linien durchzogen, die wie Adern leuchteten, und seine Blätter glitzerten wie Edelsteine.
„Danke, Prinzessin Alina,“ sprach der Baum mit einer tiefen, warmen Stimme. „Du hast mich und den Wald gerettet. Dein Mut und dein Herz haben das Licht zurückgebracht.“
Alina lächelte und fühlte sich plötzlich sehr leicht.
Der goldene Vogel legte seinen Kopf an ihre Wange und flüsterte: „Du bist die Hüterin des Waldes, Alina. Wann immer du uns brauchst, werden wir für dich da sein.“
Als die Sonne am Horizont aufging, führte der Vogel Alina und die Tiere zurück zum Schloss. Der Wald, der zuvor düster und still war, erstrahlte nun in lebendigen Farben, und die Tiere kehrten zu ihren gewohnten Plätzen zurück.
Als Alina das Schloss erreichte, war ihr Vater überglücklich, sie wiederzusehen. Doch als er hörte, was geschehen war, wurde er still.
Schließlich sagte er: „Du bist nicht nur meine Tochter, sondern auch die Retterin des Waldes. Ich bin so stolz auf dich.“
Von diesem Tag an kümmerte sich das Königreich noch besser um die Natur. Alina besuchte den Wald oft, und jedes Mal wurde sie von den Tieren und dem goldenen Vogel begrüßt. Der alte Baum blieb ein stiller Wächter, der über den Wald wachte, und die Dunkelheit kehrte nie zurück.
Und so lebte Prinzessin Alina glücklich und in Harmonie mit dem Wald, und alle Wesen dort wussten, dass sie eine wahre Beschützerin des Lichts war.