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Die letzte Seite im Buch: ein Gute-Nacht-Kuss - Gute-Nacht-Geschichte

  • Autorenbild: Michael Mücke
    Michael Mücke
  • 15. Juni
  • 4 Min. Lesezeit
Mira sitzt mit dem Buch in den Händen im Stuhl und liest

Es war einmal ein Mädchen namens Mira, das in einem Haus wohnte, das nach Zimt und altem Papier roch. Das Haus stand am Rande eines verwunschenen Waldes, dessen Bäume flüsterten, wenn der Wind durch ihre Zweige zog. In ihrem Zimmer, gleich unter dem Dach, hatte Mira einen alten Sessel, der schon so lange dort stand, dass man glaubte, er könne zuhören.


Und auf einem kleinen, wackeligen Tisch neben dem Sessel stand eine Porzellanlampe mit einer Birne, die nur dann leuchtete, wenn man ganz leise darum bat.


Mira hatte viele Bücher, große und kleine, dicke mit goldenen Seiten und dünne mit bunten Bildern. Aber es gab ein Buch, das sie nie angerührt hatte. Es lag ganz unten im Regal, eingewickelt in ein Tuch, das nach Lavendel roch.

Niemand wusste, woher es kam, und Mira hatte es nie gewagt, es zu öffnen. Es hieß „Die letzte Seite im Buch“. Der Titel stand in leiser, silberner Schrift auf dem Einband, die nur im Mondlicht schimmerte.


Eines Abends, als der Regen gegen die Fensterscheiben trommelte und die Nacht besonders still war, zog Mira das geheimnisvolle Buch vorsichtig aus dem Regal. Ihre Finger zitterten leicht, als sie das Tuch löste. Das Buch fühlte sich warm an, fast lebendig. Sie setzte sich in ihren Sessel, deckte sich mit ihrer Lieblingsdecke zu, flüsterte „Bitte leuchte“ zur Lampe – und begann zu lesen.


Die erste Seite war leer. Dann erschien langsam eine Zeile:„Dieses Buch kennt dein Herz, nicht deine Augen.“


Mira blinzelte. Die Tinte auf der Seite bewegte sich, als ob sie atmete. Dann wurde die Geschichte sichtbar. Es war nicht wie in den anderen Büchern, die sie kannte. Es war eine Geschichte, die sich zu verändern schien, je nachdem, wie sie sich fühlte.


Heute war ein Tag gewesen, an dem Mira sich allein gefühlt hatte. Ihre Mutter war spät von der Arbeit gekommen, ihr kleiner Bruder hatte geweint, und niemand hatte Zeit gehabt, ihr zuzuhören.


Also las sie weiter. Die Geschichte begann mit einem kleinen Wesen namens Nino. Nino war ein „Seelenfalter“, ein winziges Geschöpf, das in Büchern lebte, aber nicht aus Papier war – sondern aus Erinnerung, Gefühl und Staub von vergessenen Träumen.


Nino hatte eine Aufgabe: Er sollte den Menschen die letzte Seite ihres ganz besonderen Buches bringen. Doch bisher hatte niemand sein Buch je bis zur letzten Seite gelesen. Die Menschen verloren sich unterwegs, schlossen das Buch zu früh oder sahen nur mit den Augen.


Nino war traurig. Er wanderte durch die Geschichten anderer, hörte sich die Hoffnungen der Figuren an, die nie fertig erzählt wurden, und wünschte sich, dass jemand eines Tages durchhielt. Dass jemand las, bis zum Ende, mit dem Herzen, mit Vertrauen.


Mira blätterte weiter. Auf jeder Seite tauchten Erinnerungen auf, die wie Nebel aus der Vergangenheit wirkten – eine Hand, die ihre hielt, als sie krank war. Ein Lied, das ihre Großmutter immer sang. Ein Wintermorgen mit Schnee, als sie noch sehr klein war. Die Geschichte wurde immer persönlicher, immer wärmer, als ob sie in einen Traum glitt, der längst geschlafen hatte.


Plötzlich erschien auf einer Seite eine winzige Zeichnung. Es war Nino. Seine Flügel waren durchsichtig wie Glas, seine Augen groß wie Murmeln, sein Lächeln vorsichtig. Und unter ihm stand:„Ich habe gewartet, Mira.“


Sie schluckte. Noch nie hatte sie ihren Namen in einem Buch gelesen, das sie nicht selbst geschrieben hatte. „Wie weißt du, wer ich bin?“, flüsterte sie. Und auf der nächsten Seite erschien, wie eine Antwort:„Weil du mich brauchst.“


Von da an wurde das Lesen anders. Die Worte erschienen nur, wenn sie ganz still war, ganz bei sich. Sie erfuhr, dass Nino sich nach einem Zuhause sehnte. Dass er nicht zurückkehren konnte, wenn niemand ihm einen Platz in der Welt schenkte. Und sie erkannte: Sie hatte diesen Platz. In ihrem Herzen, in ihrer Fantasie, in ihrem Zimmer unter dem Dach.


Schließlich kam sie zur letzten Seite. Dort stand in goldener, fließender Schrift: „Nur wer gibt, bekommt auch Trost. Gib mir einen Kuss, damit ich schlafen kann.“


Mira lächelte, ganz weich. Sie legte das Buch auf ihre Brust, beugte sich vor und hauchte einen leisen Kuss auf die letzte Seite. In dem Moment wurde das ganze Zimmer warm. Die Lampe flackerte zärtlich.


Ein feiner Lichtfaden löste sich aus dem Buch, schwebte zur Decke und verschwand durch das Fenster in die Nacht.


Mira wusste, dass Nino nun nicht mehr alleine war. Und dass auch sie nicht mehr alleine war.


Sie schlug das Buch zu. Es fühlte sich nun anders an – nicht mehr fremd, sondern wie ein Schatz, den nur sie verstehen konnte. Sie legte es unter ihr Kopfkissen und flüsterte:„Gute Nacht, Nino. Schlaf gut.“


Dann drehte sie sich zur Seite, lauschte dem Regen, der leise auf das Dach trommelte, und spürte, wie sich etwas Warmes in ihr ausbreitete – als hätte ihr Herz eine Geschichte gefunden, die für immer blieb.


Und draußen im Wald, zwischen den flüsternden Bäumen, hörte man ein letztes Wispern:„Ein Kuss – und alles ist gut.“

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