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Die Legende des verwunschenen Wals - eine tolle Einschlafgeschichte mit einem Wal

  • Autorenbild: Michael Mücke
    Michael Mücke
  • 6. Aug.
  • 5 Min. Lesezeit
Elian sitzt auf dem Wal mit seiner Flöte

Es war einmal, vor vielen Jahren, in einem kleinen Fischerdorf an der Küste des Nebelmeers, ein Junge namens Elian. Er war etwa zehn Jahre alt, hatte wilde, dunkle Locken und Augen, die heller waren als der Morgentau auf den Blättern.


Elian lebte mit seiner Großmutter in einem windschiefen Häuschen aus Treibholz, das über einer steilen Klippe thronte, von der man das unendliche Blau des Meeres sehen konnte.


Seine Großmutter, die alle nur Oma Mirin nannten, war einst eine berühmte Geschichtenerzählerin gewesen.


Jeden Abend, wenn das Licht der Sonne hinter den Horizont sank und sich der Nebel wie ein flauschiger Teppich über das Meer legte, setzte sie sich in ihren alten Schaukelstuhl, zog Elian auf ihren Schoß und flüsterte ihm Geschichten ins Ohr, als wären sie zu kostbar, um laut gesprochen zu werden.


Eines Abends, als der Wind vom Meer besonders weich klang und die Möwen schweigend über den Wellen kreisten, fragte Elian mit leiser Stimme: „Großmutter, erzähl mir die Geschichte vom verwunschenen Wal.“


Sie sah ihn an, lange und ruhig, als prüfe sie, ob er bereit war, das zu hören, was nur wenigen Menschen erzählt worden war. Dann nickte sie und legte ein Stück Treibholz ins knisternde Feuer.


„Hör gut zu, Elian,“ begann sie, „denn was ich dir erzähle, ist nicht nur eine Geschichte. Es ist eine Wahrheit, die unter den Wellen schläft.“


Vor unzähligen Jahren war das Nebelmeer ein Ort voller Magie. Die Menschen lebten in Harmonie mit den Geistern des Wassers. Die Winde gehorchten alten Liedern, und in der Tiefe wachte ein Wesen von unermesslicher Weisheit: der Wal Lirion.


Er war groß wie eine Insel, seine Haut schimmerte silbern wie der Schein des Mondes, und seine Augen – so sagte man – waren älter als der Himmel.


Lirion war der Hüter des Gleichgewichts. Er bewachte die Grenze zwischen der Welt der Menschen und den geheimen Reichen unter dem Meer. Wenn ein Sturm zu wüten begann, sang er Lieder, die die Wellen beruhigten. Wenn ein Kind am Ufer weinte, tauchte er manchmal auf, um es mit seinem Gesang zu trösten. Er war Güte in Gestalt, aber auch unerschütterliche Macht.


Doch eines Tages kam ein König. Nicht irgendein König, sondern ein Mensch mit einem Herzen so kalt wie der Nordwind und einem Verlangen, das niemals gestillt werden konnte. Sein Name war König Mareon, und er fürchtete nichts so sehr wie das Ende seines Lebens.


„Ich will ewig leben,“ sagte Mareon, „und wenn das Meer die Antwort kennt, werde ich sie ihm entreißen.“


Er ließ seine Alchemisten forschen, seine Magier singen und seine Krieger in den Sternen lesen. Schließlich erfuhren sie von Lirion, dem uralten Wal, dessen Herz ewige Jugend schenken könne – wenn man es in einem besonderen Ritual aus seinem Körper löste. Mareon zögerte keinen Moment. Er ließ eine Flotte aus obsidianschwarzen Schiffen bauen, ihre Segel aus gesponnener Nacht, ihre Netze aus Goldfäden gesegnet mit dunklen Zaubern.


Der Tag, an dem Mareon auslief, wurde vom Himmel selbst verflucht. Die Sonne verschwand hinter einem Schleier, und kein Vogel wagte es zu singen. Die Fischer am Ufer blickten stumm aufs Meer, als wüssten sie, dass etwas Kostbares zerstört werden sollte.


Tage wurden zu Wochen, doch die Flotte gab nicht auf. Schließlich, bei der Schwelle zwischen Nacht und Tag, sahen sie ihn: Lirion, der ruhend unter dem Glanz des Nordlichts schwamm, als wäre er selbst ein Teil davon. Die Schiffe umkreisten ihn wie Haie.


Da hob Lirion langsam den Kopf aus dem Wasser. Seine Augen, groß und leuchtend, blickten direkt in Mareons Seele.


„Warum kommst du, König?“ fragte er, seine Stimme wie ein ferner Donner.


„Ich komme, um das zu holen, was mir zusteht,“ rief Mareon.„Dir steht nichts zu, was das Gleichgewicht stört.“


Doch der König hörte nicht. Er befahl den Angriff. Die Harpunen flogen, die Zaubernetze wurden ausgeworfen, und aus den Schiffen stiegen Flammen auf.


Lirion wehrte sich nicht. Er sang. Einen einzigen Ton, der die See erbeben ließ. Die Wellen bäumten sich auf, Wolken wirbelten herab, und dann – ein gewaltiger Strudel riss die Schiffe in die Tiefe. Das Meer nahm sich zurück, was man ihm entreißen wollte.

Mareon verschwand spurlos. Doch auch Lirion wurde nie wieder gesehen.


Manche sagen, er sei gestorben. Andere sagen, er habe sich in die tiefsten Schluchten zurückgezogen, verwundet nicht an Fleisch, sondern an Vertrauen. Doch die Alten erzählen, dass Lirion nur schlafe – wartend, bis jemand mit einem reinen Herzen ihn wieder weckt.


Elian war still geworden. Die Flammen warfen tanzende Schatten an die Wände, und draußen rauschte das Meer leise gegen die Felsen.


„Großmutter… glaubst du, er hört mich, wenn ich singe?“

„Wenn dein Herz ihn ruft, dann hört er dich, Elian.“


In jener Nacht konnte Elian nicht schlafen. Der Mond war voll, und sein Licht schien durch das Fenster wie eine silberne Spur. Er stand leise auf, nahm seine kleine Flöte, die ihm sein Vater geschnitzt hatte, und schlich hinaus zum Steg.


Er setzte sich auf die Planken, ließ die Füße über dem Wasser baumeln und spielte. Nicht laut, nicht kompliziert, sondern ehrlich. Die Töne flossen wie Wasser, schwebten über das ruhige Meer, und für einen Moment schien alles still zu stehen.


Dann, ganz leise, kam ein tiefer Ton aus der Ferne – ein Ton, den kein Mensch machen konnte. Elian hielt den Atem an. Das Wasser kräuselte sich, obwohl kein Wind wehte. Ein gewaltiger Schatten erschien unter dem Boot, größer als alles, was Elian je gesehen hatte.


Und dann hob sich das Meer. Aus der Tiefe stieg ein Auge empor, klar und leuchtend. Es blickte direkt in Elians Herz. „Dein Lied kennt keine Gier,“ sagte die Stimme, „darum höre ich dich.“


„Lirion?“ flüsterte Elian. „Ich bin der, von dem du träumtest. Und du, kleiner Sänger, erinnerst mich an das Lied der Welt.“


Der Wal trug Elian eine ganze Stunde lang auf seinem Rücken, hinaus in das Herz des Nebelmeers. Dort zeigte er ihm Dinge, die kein Mensch je gesehen hatte: unterseeische Städte aus leuchtendem Glas, Fische mit durchsichtigen Flügeln, und eine riesige Spirale aus Licht, die tief in die Erde führte.


„Diese Welt lebt durch das Gleichgewicht. Du darfst sie nicht vergessen.“

„Ich verspreche es, Lirion.“


Am Morgen lag Elian schlafend in seinem Boot, das ganz ruhig an den Steg zurückgedriftet war. Niemand glaubte ihm, als er erzählte, was geschehen war – außer seiner Großmutter, die ihn nur anlächelte und sagte: „Du bist jetzt ein Hüter der Tiefe.“


Von diesem Tag an spielte Elian jeden Abend. Er wurde älter, aber er vergaß nie. Kinder kamen zu ihm, setzten sich an seine Füße, hörten seine Lieder und lernten, das Meer nicht zu bezwingen – sondern zu verstehen.


Und manchmal, in den nebligen Nächten, wenn der Wind besonders weich weht, glaubt man, einen tiefen Ton unter den Wellen zu hören.


„Ich diene dem Gleichgewicht… und der Hoffnung.“


Und das ist die Geschichte des verwunschenen Wals. Jetzt schließ die Augen, kleiner Träumer und hör, wie das Meer noch immer singt.


Gute Nacht.

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