Die geheimnisvolle Welt der vergessenen Spielzeuge - Gute-Nacht-Geschichte
- Michael Mücke
- 17. Juni
- 4 Min. Lesezeit

Es war einmal ein kleines, gemütliches Kinderzimmer in einem alten Haus am Rande einer Stadt. In einer Ecke stand ein Regal, in dem Spielzeuge aller Art aufgereiht waren – manche glänzten noch wie neu, andere waren schon etwas zerzaust, mit abgeschabten Farben oder fehlenden Teilen. Über all die Jahre hatten hier viele Spielsachen ihr Zuhause gefunden, und jedes einzelne hatte seine eigene Geschichte.
Ganz oben im Regal saß Bruno, ein großer, brauner Teddybär mit einem leicht schiefen Knopfauge und einem gestopften Ohr. Bruno war einst der allerliebste Begleiter eines kleinen Jungen namens Emil gewesen. Sie hatten zusammen Abenteuer erlebt, Räuberhöhlen gebaut und Seefahrerreisen unternommen – alles im Wohnzimmer natürlich. Aber nun war Emil älter geworden. Er spielte kaum noch mit Bruno, und der Teddybär saß still und geduldig auf seinem Platz.
„Ich glaube, ich bin vergessen worden,“ murmelte Bruno leise vor sich hin.
Neben ihm saß Lilli, eine wunderschöne Stoffpuppe mit einem geblümten Kleid, das inzwischen an vielen Stellen ausgeblichen war. Ihr rotes Wollhaar war etwas verfilzt, und einer ihrer Schuhe fehlte. Lilli hatte einst einer kleinen Schwester von Emil gehört – Mia – doch auch sie war gewachsen, und ihre Interessen hatten sich verändert.
„Wir sind nicht vergessen,“ sagte Lilli hoffnungsvoll. „Vielleicht erinnern sie sich ja irgendwann wieder.“
Aber in dieser Nacht geschah etwas Seltsames. Als das Mondlicht durch das Fenster fiel, glitzerte es auf dem Staub, der sich auf Brunos Ohr gesammelt hatte. Ein sanfter Windzug wehte durch das Zimmer, obwohl alle Fenster geschlossen waren.
Die Spielzeuge hielten den Atem an. Hinter dem Bücherstapel an der Wand bewegte sich plötzlich etwas – ganz leise und vorsichtig schob sich eine verborgene Tür hervor, die vorher niemand gesehen hatte.
„Siehst du das auch?“ flüsterte Bruno aufgeregt.„Ja! Eine Tür... wo kommt die her?“ antwortete Lilli staunend.
Neugierig und mit klopfendem Herzen kletterten sie vorsichtig vom Regal. Der Boden war für Spielzeuge wie eine weite Ebene, aber sie kannten den Weg. Bruno half Lilli über eine heruntergefallene Socke, und gemeinsam traten sie durch die verborgene Tür.
Hinter der Tür lag eine wundersame Welt, wie sie sich niemand hätte träumen lassen.
Alles war weicher, bunter und irgendwie lebendiger als die gewöhnliche Welt. Die Luft roch nach Zuckerwatte, Regen und alten Kinderträumen. Riesige Pilze aus Filz wuchsen am Wegrand, und ausgehöhlte Trommeln dienten als Häuser. Die Welt wurde vom leichten Licht leuchtender Murmeln erhellt, die wie kleine Monde über den Wegen schwebten.
„Willkommen in der geheimnisvollen Welt der vergessenen Spielzeuge!“ rief plötzlich eine fröhliche Stimme.
Vor ihnen stand ein kleiner Holzclown mit knarrenden Gelenken und einer roten Nase, die ab und zu aufleuchtete. Er trug einen Hut aus einem alten Becher und einen Umhang aus Schnipseln eines Bilderbuchs.
„Ich bin Herr Ticktack! Ich kümmere mich um die Neuankömmlinge,“ sagte er mit einem freundlichen Lächeln. „Aber… wo sind wir hier wirklich?“ fragte Bruno verwundert.
„Ihr seid in eurem zweiten Zuhause,“ erklärte Herr Ticktack. „Hier leben alle Spielzeuge, die in der Menschenwelt nicht mehr gebraucht werden. Nicht traurig – hier wird jeder gesehen, jeder gehört.“
Bruno und Lilli blickten sich um. Da war ein alter Holzzug, der mit lautem Tuten durch eine Wiese aus Teppichflusen fuhr. Ein Stoffpferd mit einem gerissenen Bauch sprang fröhlich durch einen Garten voller Legosteine. Ein roboterartiger Radiowecker veranstaltete mit anderen elektronischen Spielzeugen ein Konzert. Überall herrschte Freude, aber auch Ruhe und Geborgenheit.
„Wir bauen unsere eigene Welt auf,“ erklärte eine Barbiepuppe mit einem bunten Umhang aus Garnresten.
„Hier zählt nicht, wie neu oder glänzend du bist. Hier zählt nur, was du erlebt hast.“
Im Zentrum der Welt stand eine große Uhr – rund, glänzend und aus bunten Zahnrädern gebaut. Sie bewegte sich nicht wie normale Uhren. Stattdessen blitzten auf ihrem Ziffernblatt immer wieder Namen auf – mal ganz kurz, mal etwas länger.
„Das ist die Erinnerungsuhr,“ sagte Herr Ticktack ehrfürchtig. „Immer wenn ein Kind an ein vergessenes Spielzeug denkt, erscheint der Name hier. Dann wissen wir: Jemand da oben hat uns noch im Herzen.“
Plötzlich flackerte das Licht auf der Uhr. Zwei Namen erschienen: „Bruno“ und „Lilli“. Beide waren überrascht. „Emil! Und Mia!“ rief Lilli glücklich. „Sie haben an uns gedacht!“ sagte Bruno mit glänzenden Knopfaugen.
Ein warmer Lichtstrahl schien vom Himmel herab.
„Wenn das geschieht,“ flüsterte Herr Ticktack, „dürft ihr für einen kleinen Moment in ihre Träume zurückkehren. Nicht mit dem Körper – aber mit dem Herzen.“
Bruno und Lilli schlossen die Augen und spürten, wie sie durch den Traum eines schlafenden Kindes glitten. Sie hörten Lachen, spürten eine kleine Hand, die sie drückte, und ein Flüstern: „Ich erinnere mich an euch.“
Als sie wieder zurück in der Spielzeugwelt waren, fühlten sie sich leichter. „Manchmal reicht ein Gedanke, um uns lebendig zu machen,“ sagte Bruno still.
Die beiden beschlossen, nicht nur zu bleiben, sondern auch anderen vergessenen Spielzeugen zu helfen. Sie bauten ein kleines Häuschen unter einem Blätterdach aus Puzzleteilen, backten Kekse aus Knetmasse und erzählten abends Geschichten.
Immer wenn neue Spielzeuge durch die Tür kamen, ein abgebrochener Ritter, ein dreibeiniger Dinosaurier oder ein zerspieltes Plüschtier, waren Bruno und Lilli da, um sie zu begrüßen.
Und manchmal, wenn draußen in der Menschenwelt ein Kind traurig war oder sich einsam fühlte, schickten sie einen winzigen Hauch von Spielzeugwelt durch die Träume: ein vertrautes Lachen, ein bekanntes Lied, oder das Gefühl von weichem Stoff unter den Fingern.
Denn vergessene Spielzeuge vergessen niemals.
Und wenn du heute Abend ins Bett gehst, denk vielleicht ganz kurz an ein altes Spielzeug von dir. Wer weiß – vielleicht leuchtet dann dein Name auf der Erinnerungsuhr.
„Vergessen heißt nicht vorbei. Es heißt nur: Es lebt woanders weiter.“
Gute Nacht. Träum schön. Die geheimnisvolle Welt wartet.
Ende.
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