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Die Eule, die Träume zeichnete - Gute-Nacht-Geschichte

  • Autorenbild: Michael Mücke
    Michael Mücke
  • vor 3 Tagen
  • 4 Min. Lesezeit

Die Eule sitzt im Wald mit ihren gezeichneten Traumideen

Tief in einem verwunschenen Wald, der auf keiner Karte verzeichnet war, lebte eine Eule namens Elva. Der Wald war ein Ort, den man nur finden konnte, wenn man ganz genau wusste, wie man lauscht, nicht mit den Ohren, sondern mit dem Herzen.


Die Bäume dort waren hoch und alt, ihre Kronen so weit verzweigt, dass sie tagsüber die Sonne in weichem, grünem Licht filtern ließen, und nachts mit ihren Ästen die Sterne zu berühren schienen.


Elva war eine kleine Schleiereule mit besonders weichen, silberweißen Federn, die im Mondlicht schimmerten wie das Glitzern auf einem stillen See. Aber nicht ihre Federn waren es, die sie besonders machten. Elva hatte eine Gabe, die im ganzen Wald einzigartig war: Sie konnte Träume zeichnen und zwar nicht nur ihre eigenen, sondern die Träume anderer.


Jede Nacht, wenn der Himmel dunkel wurde und der erste Stern am Firmament erschien, flatterte Elva hoch in die Zweige der uralten Silberbirke – dem ältesten Baum des Waldes. Dort, zwischen den knorrigen Ästen, hatte sie sich ein Atelier gebaut, wie es nur eine Eule mit viel Liebe zum Detail und einer riesengroßen Fantasie schaffen konnte.


Ihr Atelier bestand aus aufgehängten Spinnweben, die sie von einer besonders feinen Spinnenkünstlerin geschenkt bekommen hatte. Die Netze waren gespannt wie zarte Leinwände zwischen den Zweigen.


Elva nutzte Tautropfen, um Linien zu malen, und den leuchtenden Blütenstaub der Nachtlilien, der im Dunkeln sanft glühte. Sie sammelte die Farben der Dämmerung, das tiefe Blau der Mitternacht, das Purpur der Abendwolken und das leise Gold des ersten Sonnenstrahls alles speicherte sie in kleinen Nüssen und Muschelschalen, die sie in ihrem Nest aufbewahrte.


„Träume wachsen wie Blumen im Wind – man muss sie nur einfangen, bevor sie verwelken,“ sagte Elva oft, wenn ein neugieriges Tier sie beim Malen beobachtete.


Jede Nacht kamen andere Tiere zu ihr, schauten von unten hoch zu ihrem Baum und flüsterten leise ihre Traumwünsche. Ein junger Waschbär bat um einen Traum, in dem er fliegen konnte, nicht mit Flügeln, sondern auf einem Teppich aus Blättern. Ein altes Reh, das fast nichts mehr sah, wünschte sich einen Traum voller Farben, so bunt wie ein Regenbogen aus Musik.


Elva hörte aufmerksam zu. Dann tunkte sie eine Feder in den blauen Morgentau und begann mit flinken Bewegungen zu zeichnen. Linien entstanden wie aus dem Nichts – ein leuchtender Pfad, der sich durch das Geäst zog, Spiralen aus Licht und Schatten, und leise, funkelnde Formen, die nur der Wind lesen konnte.


Die Träume flogen mit dem Wind davon, glitten durch die Äste, schlüpften durch Fenster in Vogelnester oder unter Farnblätter, wo kleine Igelkinder schliefen. Und dort begannen sie zu leben – als Bilder in den Köpfen der Tiere, als Abenteuer, als Lieder, als Erinnerungen an Orte, die es nur in der Nacht gab.


Eines Nachts kam ein sehr kleiner Fuchs zu Elva. Seine Augen waren groß und rund, voller Fragen.


„Eule Elva, kannst du mir einen Traum malen, in dem ich mutig bin?“

Elva lächelte.


„Mut, mein kleiner Freund, hat viele Gesichter. Wie soll er in deinem Traum aussehen?“


Der kleine Fuchs dachte lange nach.


„Vielleicht wie ein Berg aus Glas, den ich besteige. Oder wie ein Schatten, den ich umarme, obwohl er mir Angst macht.“


Elva nickte. Dann zeichnete sie. Der Traum nahm Form an – ein Berg, der im Licht der Sterne glitzerte, mit Wegen aus Geschichten und Höhlen aus Flüstern. Auf seiner Spitze wuchs ein Baum, dessen Blätter wie Herzschläge leuchteten. Und ein kleiner Fuchs kletterte unerschrocken hinauf, begleitet von einem Wind, der „Du schaffst das“ summte.


In dieser Nacht schlief der kleine Fuchs besonders fest. Als er am Morgen erwachte, fühlte er sich größer, nicht im Körper, sondern im Herzen.


Doch nicht jede Nacht war gleich. Es gab auch Nächte, in denen Elva nicht zeichnete. In solchen Nächten schien der Himmel schwer, und die Sterne flackerten nur schwach. Elva saß dann still auf ihrem Ast, den Kopf geneigt, und hörte dem Murmeln der alten Silberbirke zu.


Eines Morgens, nach einer besonders dunklen Nacht, konnte Elva nicht mehr zeichnen. Ihre Krallen zitterten, ihre Farben blieben blass, und die Spinnweben zogen sich zusammen wie traurig gewordene Augenlider.


„Ich habe alle Träume verschenkt,“ seufzte sie, „vielleicht ist meine Magie leer.“

Da kam der Wind, dieser uralte Freund, der durch den Wald strich, Geschichten sammelte und manchmal Antworten brachte.


„Du hast so viele Träume gezeichnet, liebe Elva. Vielleicht ist es Zeit, dass du selbst einen träumst.“


Elva hatte noch nie selbst geträumt. Jede Nacht war sie wach, lauschte, malte, schenkte. Aber nun, so sagte der Wind, sei es Zeit, selbst zu ruhen.


Also schloss Elva die Augen, ganz vorsichtig, wie jemand, der ein unbekanntes Lied zum ersten Mal hört.


Und sie träumte.


Sie träumte von einer Welt unter dem Meer, in der Tintenfische Gedichte schrieben mit ihren Armen, von schwebenden Inseln, die von Libellen gezogen wurden, und von einem riesigen Himmelzelt, unter dem alle Wesen des Waldes sich versammelten und ihre Träume austauschten wie bunte Perlen.


Als Elva aufwachte, war der Himmel noch violett vom Morgengrauen, und in ihrem Herzen klopfte etwas Neues. Etwas Eigenes.


Sie sah auf ihre Federn – sie leuchteten zart in neuen Farben, Farben, die sie nie zuvor benutzt hatte. Farben, die aus ihrem eigenen Traum kamen.


Von diesem Tag an malte Elva nicht nur die Träume anderer. Sie malte auch aus sich selbst heraus, kleine Funken aus ihren eigenen Geschichten. Und die Träume wurden noch bunter, noch mutiger, noch wundervoller.


Man sagt, wenn man ganz still liegt in der Nacht und ganz genau hinsieht, kann man manchmal eine kleine Eule erkennen, die zwischen den Sternen malt. Und wer dann träumt, der träumt vielleicht von Dingen, die nie zuvor jemand geträumt hat.


Denn Träume, das wusste Elva nun, sind nicht nur Geschenke, die man macht. Sie sind auch Wege, auf denen man sich selbst begegnet.


Gute Nacht.

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