Die Ente, die einen Marathon lief - eine aufregende und spannende Gute-Nacht-Geschichte
- Michael Mücke
- 5. Aug.
- 5 Min. Lesezeit

Es war einmal eine kleine Ente namens Emma, die in einem friedlichen Dorf namens Wiesental lebte. Dieses Dorf war ein echtes Idyll: Umgeben von Wiesen voller Wildblumen, einem großen, glitzernden See und einem dichten, geheimnisvollen Wald, war es der perfekte Ort für alle Tiere, die dort lebten. Die Hühner pickten Körner im Hof, die Katzen lagen faul in der Sonne, und die Schafe blökten gemütlich auf den Hügeln. Doch unter all diesen Tieren war Emma etwas ganz Besonderes.
Emma war anders. Nicht, weil sie bunte Federn oder eine außergewöhnlich laute Stimme hatte – nein. Emma hatte Träume. Große Träume. Und einer dieser Träume war so verrückt, dass ihn niemand ernst nahm: Emma wollte einen Marathon laufen.
„Einen Marathon? Du bist doch eine ENTE!“, hatte ihr bester Freund, der Maulwurf Max, gesagt, als sie ihm zum ersten Mal davon erzählte. Er blinzelte sie mit seinen kleinen, kurzsichtigen Augen an und schüttelte den Kopf. „Enten watscheln. Enten schwimmen. Aber laufen? 42 Kilometer?“
Doch Emma ließ sich nicht beirren. Sie hatte es in einem alten Buch der Bäuerin gelesen, das sie aus dem Fenster hatte fallen lassen: "Was du dir erträumen kannst, das kannst du auch erreichen." Dieser Satz hatte sich in Emmas Herz eingebrannt.
Also begann sie, heimlich zu trainieren. Jeden Morgen, wenn der Nebel noch wie ein Schleier über dem See lag, schlich sie sich aus dem Entenhaus. Zuerst rannte sie nur ein paar Minuten. Ihre Füße waren ungeübt, ihre Lunge brannte, und sie schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Doch sie gab nicht auf.
Nach einer Woche konnte sie einmal um den ganzen See laufen. Nach zwei Wochen sogar bis zur alten Mühle am Waldrand. Sie entwickelte Tricks, um nicht auszurutschen – wie man mit leicht gespreizten Zehen besseren Halt bekommt und wie man beim Laufen den Kopf genau gerade halten muss, damit die Balance stimmt.
Andere Tiere begannen, sie zu beobachten. Die Mäuse, die am Feldrand wohnten, piepsten neugierig: „Was tut sie da nur jeden Morgen?“ Die Hühner gackerten abfällig:
„Vielleicht denkt sie, sie ist ein Strauß.“ Nur die alte Ziege Zora sah sie mit nachdenklichen Augen an und murmelte: „Vielleicht weiß sie mehr, als wir glauben.“
Eines Abends, als Emma müde vom Training an den See zurückkehrte, hörte sie im Radio, das bei der Bäuerin auf dem Fensterbrett stand, eine Durchsage: „Achtung, Achtung, liebe Tiere des Landes! Der große Tierwald-Marathon findet in drei Wochen statt. Streckenlänge: 42 Kilometer. Startpunkt: Lichtung am Grünen Hügel. Wer sich traut, melde sich im Rathaus der Tiere!“
Emmas Herz schlug bis in den Schnabel. Jetzt war ihre Chance gekommen. Sie rannte sofort los – nicht nach Hause, sondern direkt zur alten Eiche, wo der weise Rabe Rudi, der Bürgermeister des Tierwalds, wohnte. Er trug immer eine kleine Brille auf dem Schnabel und eine Weste aus Herbstblättern.
„Ich möchte mich anmelden“, sagte Emma, „für den Marathon.“
Rudi blinzelte sie an, schob seine Brille zurecht und krächzte: „Du… bist eine Ente.“
„Ich weiß.“
„Und du willst 42 Kilometer laufen?“ „Ja.“ „Und warum?“ Emma blickte ihm in die Augen und sagte mit fester Stimme: „Weil ich es kann. Auch wenn es noch keiner gesehen hat.“
Der Rabe schwieg kurz, dann kramte er in seiner Tasche, zog ein kleines Blatt Papier hervor, stempelte es mit seinem Schnabel und reichte es ihr. „Dann bist du offiziell angemeldet. Viel Glück, Ente Emma.“
Von da an wurde Emmas Leben noch aufregender. Sie musste ihre Trainingseinheiten verlängern, lernte, sich mit Kräutertees zu erholen, und bekam Hilfe von der alten Schildkröte Tilda, die früher eine berühmte Wanderführerin gewesen war. Tilda zeigte ihr Dehnübungen, Atemtechniken und das Wichtigste: „Du musst mit deinem Herzen laufen, nicht mit deinen Beinen.“
Die Tage vergingen. Der große Tag rückte näher. Und während Emma über Felder, Wege, Hügel und durch Bäche rannte, spürte sie, wie sie stärker wurde – nicht nur körperlich, sondern auch im Kopf.
Doch dann, nur vier Tage vor dem Rennen, passierte es: Emma rutschte auf einem nassen Pilz im Wald aus, überschlug sich und landete in einem Dornenbusch. Ihr Flügel schmerzte. Ihre Pfote war angeschwollen. Sie humpelte zurück zum Stall und war den Tränen nahe. „War alles umsonst?“, flüsterte sie.
Aber in dieser Nacht stand jemand an ihrer Seite: Ziege Zora. Sie brachte einen Beutel mit Kräutern und sagte: „Du bist weit gekommen, Kleine. Du darfst nicht aufgeben, jetzt nicht.“ Emma trank Zoras Tee, ruhte sich aus, und am nächsten Morgen – langsam, vorsichtig – begann sie wieder zu gehen. Schritt für Schritt. Meter für Meter. Und am Abend war sie bereit.
Dann kam der Tag des Marathons.
Tiere aus allen Ecken des Waldes waren gekommen: Rehe, Wiesel, Dachse, Füchse, sogar ein Pfau aus der Stadt. Alle hatten Nummern an ihren Bäuchen, trugen Stirnbänder oder Trinkflaschen, und am Start war eine riesige Stimmung.
Emma stand zwischen ihnen, klein, aber entschlossen. Sie trug ihre gelbe Schleife. Um ihren Hals hing ein kleiner Talisman aus Seegras, den ihr Maulwurf Max heimlich gebastelt hatte.
Der Rabe Rudi trat auf das Podest und rief: „Teilnehmer, macht euch bereit! Der große Tierwald-Marathon beginnt in… 3, 2, 1… los!“
Die Masse stürmte los. Staub wirbelte auf. Füße trappelten. Die Sonne schien warm auf die Rücken der Läufer. Emma lief. Nicht zu schnell. Nicht zu langsam. Sie hatte gelernt, ihren Rhythmus zu finden.
Kilometer für Kilometer zog sie durch den Wald. Sie begegnete Herausforderungen: ein Bach, den sie überspringen musste, ein steiler Hügel, an dem sie fast zurückrutschte, ein müder Hase, den sie aufmunterte. Immer wieder sagten Tiere zu ihr: „Du bist die Ente, von der alle sprechen!“
Und Emma lächelte.
„Ja. Ich bin Emma. Und ich laufe.“
Als sie bei Kilometer 30 war, schmerzten ihre Beine, und ihr Atem war schwer. Viele andere Läufer hatten längst aufgegeben. Doch plötzlich hörte sie Schritte hinter sich – langsam, tapfer, vertraut.
Es war Tilda.
„Ich hab dich eingeholt“, sagte die Schildkröte lächelnd.
„Zusammen bis zum Ziel?“, fragte Emma.
„Zusammen.“
Sie liefen Seite an Seite. Als sie die letzte Kurve erreichten, öffnete sich der Wald. Auf der Lichtung am Grünen Hügel standen alle Tiere: jubelnd, klatschend, rufend. Der Wind trug ihren Namen durch die Bäume: „Emma! Emma! Emma!“
Sie überquerten die Ziellinie. Nicht als Erste, aber mit erhobenem Kopf und strahlendem Herzen. Der Rabe Rudi legte Emma eine Medaille aus Holz um den Hals. Darauf stand: „Die, die niemals aufgab.“
In dieser Nacht schlief Emma tief und fest unter dem Sternenhimmel, umgeben von Freunden, die sie nun alle bewunderten.
Und während sie träumte, flüsterte der Wind durch die Zweige:„Sie war nur eine Ente. Aber sie lief einen Marathon.“
Und irgendwo, in einem Stall, schlüpfte ein kleines Entenküken aus dem Ei – und träumte davon, eines Tages noch weiter zu laufen.