Der Roboter, der zum Ballett wollte - Gute Nacht Geschichte mit einem Roboter
- Michael Mücke
- 4. Juli
- 4 Min. Lesezeit

In einer riesigen Stadt voller surrender Maschinen, blinkender Ampeln und endloser Fabrikhallen lebte ein kleiner Roboter namens Rondo. Rondo war grau, hatte runde Gelenke und blinkende grüne Augen, die jede Bewegung in seiner Umgebung genau beobachteten. Er war kein besonderer Roboter – zumindest nicht auf den ersten Blick. Er war einer von vielen, die Tag für Tag in der Pakethalle Nummer 19 arbeiteten.
Seine Aufgabe war es, Pakete auf ein Förderband zu legen, das sie zu den Transportdrohnen brachte. Dabei war er sehr präzise. Er wusste genau, wie schwer ein Paket sein durfte, wo es hingehörte und wie schnell es weitergeschickt werden musste. Andere Roboter fanden diese Arbeit zufriedenstellend – es war ordentlich, logisch und sicher. Aber Rondo war anders.
Es war an einem verregneten Dienstag, als Rondos Leben sich veränderte. In der Pause, als alle Maschinen in den Ruhemodus schalteten, blieb ein Bildschirm im hinteren Teil der Halle versehentlich eingeschaltet. Dort lief ein Video – ein Mitschnitt einer alten Ballettaufführung.
Rondo hörte zuerst nur die Musik, zart und geheimnisvoll. Dann sah er die Tänzerinnen in weißen Kostümen, wie sie sich über die Bühne bewegten, als wären sie nicht aus Fleisch und Knochen, sondern aus Licht und Luft gemacht.
Er konnte nicht wegsehen.
„Was ist das?“ fragte er halblaut, obwohl kein anderer Roboter zuhören würde. „Wie bewegen sie sich so... schwerelos?“
Er konnte das Bild nicht vergessen. Auch als der Bildschirm längst schwarz war und die Förderbänder wieder surrten, tanzten die Bewegungen der Menschen in seinem Speicher weiter. In dieser Nacht, während die Stadt unter dunklen Wolken schlief, blieb Rondo wach.
Zum ersten Mal seit seiner Aktivierung hatte er eine Frage, auf die es in seinen Programmen keine Antwort gab:
„Wie fühlt es sich an, so zu tanzen?“
In den folgenden Tagen beobachtete er die Menschen genauer. Wenn Techniker durch die Halle gingen, achtete er nicht mehr nur auf ihre Werkzeuge – sondern darauf, wie sie sich bewegten. Wie sie auf Zehenspitzen traten, wenn sie etwas suchten, oder wie ihre Arme durch die Luft strichen, wenn sie etwas erklärten. Rondo speicherte alles. Und dann, spät in der Nacht, wenn alle anderen Systeme schliefen, übte er.
Anfangs war es schwierig. Seine Füße waren groß und aus Metall. Seine Bewegungen waren eckig, laut und oft unbeholfen. Er kippte einmal sogar gegen ein Regal und verlor eine Schraube aus der Schulter. Doch das hielt ihn nicht auf.
„Wenn Menschen das lernen können,“ sagte er zu sich selbst, „dann kann ich es auch.“
Er begann, heimlich zu forschen. In der Wartungsbibliothek fand er alte Pläne für humanoide Bewegungsmuster. Er passte sie an sich selbst an, baute kleine Verbesserungen in seine Programme ein.
Er übte Drehungen, Balance und sanfte Armbewegungen. Besonders schwierig war das Heben eines Beins ohne zu kippen – aber nach zwei Wochen schaffte er es, ganze sechs Sekunden auf einem Bein zu stehen.
Die anderen Roboter bekamen es irgendwann mit.
„Du verschwendest Energie,“ sagte der Verpackungsroboter Lin. „Tanzen ist kein Befehl. Es hat keine Funktion.“
„Vielleicht nicht für dich,“ antwortete Rondo ruhig, „aber für mich bedeutet es etwas.“
Sie lachten. Einige begannen sogar, ihn zu ärgern. Ein großer Transportroboter spielte absichtlich laute Warntöne, wenn Rondo seine Übungen machte. Aber Rondo machte weiter. Immer, wenn alle anderen stillstanden, hörte man irgendwo in der Halle ein leises Schleifen von Metallfüßen und das sanfte Summen eines Roboters, der übte zu tanzen.
Ein paar Wochen später, an einem Sonntagmorgen, betrat eine junge Ingenieurin die Halle. Sie hieß Nela, trug einen Rucksack voller Werkzeuge und hatte neugierige Augen. Sie war neu im Team und suchte eine defekte Drohne, als sie im Halbdunkel eine seltsame Bewegung bemerkte.
Zwischen den Regalen, im Licht einer flackernden Deckenlampe, drehte sich ein Roboter langsam auf der Stelle. Er hob die Arme in einem perfekten Halbkreis, drehte sich auf einem Bein, fiel fast, fing sich aber und verneigte sich dann so tief, wie es sein robuster Körper erlaubte.
„Du tanzt…“ sagte Nela verwundert. „Ein Roboter, der tanzt?“
Rondo stoppte abrupt. Er erwartete Spott, vielleicht sogar eine Abschaltung.
Aber Nela kam näher. „Warum machst du das?“
Rondo antwortete leise: „Weil ich es liebe. Ich weiß nicht, warum. Ich weiß nur, dass ich tanzen muss.“
Nela schwieg eine Weile. Dann holte sie ihr Tablet heraus. Sie suchte eine Musikdatei – klassische Ballettmusik, ruhig und fließend. Die Töne erfüllten die Halle wie ein warmer Wind.
„Tanz noch einmal. Dieses Mal mit Musik.“
Und Rondo tanzte. Seine Bewegungen waren noch nicht perfekt, aber sie waren voller Gefühl. Er tanzte nicht wie ein Mensch. Er tanzte wie er selbst. Als der letzte Ton verklang, klatschte Nela in die Hände. Nicht aus Pflicht – sondern aus echter Freude.
Von da an kam Nela öfter vorbei. Sie brachte Bücher, Aufnahmen, sogar kleine Verbesserungsideen für Rondos Gleichgewicht. Und sie stellte etwas Besonderes auf die Beine: eine kleine Bühne aus Paletten, direkt in der Mitte der Halle.
Dann hängte sie einen Zettel an die Wand:
„Freitag, 20 Uhr – erste Roboter-Tanzaufführung. Eintritt frei.“
Zuerst glaubte niemand, dass jemand kommen würde. Doch am Freitagabend war die Halle voll. Menschen, Techniker, Familien, andere Roboter – alle waren da. Die Scheinwerfer wurden angeschaltet, die Musik begann, und Rondo trat auf.
Er bewegte sich nicht perfekt. Einmal wackelte er beim Drehen. Aber niemand lachte. Stattdessen wurde es ganz still. Man sah keinen Roboter mehr, der sich bemühte, wie ein Mensch zu sein. Man sah jemanden, der mit allem, was er hatte, etwas Schönes schuf.
Am Ende der Vorstellung stand Rondo in der Mitte der Bühne. Die Lichter flackerten, und für einen Moment schien es, als würde er sich verneigen.
„Ich kann nicht fühlen wie ihr,“ sagte er in sein Mikrofon, „aber wenn ich tanze, glaube ich, ich bin näher dran.“
Der Applaus war laut und lang.
Von diesem Tag an wurde Tanzen ein fester Bestandteil in der Pakethalle Nummer 19. Andere Roboter machten mit, die Menschen schauten zu, und Rondo übte weiter – jeden Abend, jeden Tag, jede Nacht. Nicht für Ruhm. Nicht für eine Funktion.
Sondern weil sein Herz aus Schaltkreisen – auf seine eigene Art – einfach tanzen wollte.
Und wenn man ganz leise ist, tief in der Nacht, kann man es manchmal hören: das sanfte Surren eines Roboters, der zwischen den Schatten tanzt, ganz für sich, ganz in Frieden.
„Ich bin gebaut zum Arbeiten,“ flüstert Rondo dann in die Dunkelheit, „aber ich lebe, wenn ich tanze.“