Der Drache und das verlorene Königreich - eine fantasievolle, spannende Geschichte zum Einschlafen für Kinder
- Michael Mücke
- 2. Aug.
- 4 Min. Lesezeit

Es war einmal, vor sehr langer Zeit, in einem Land hinter Regen und Sonne, ein Drache namens Firion. Firion war groß wie eine Burg, seine Schuppen glänzten in smaragdgrünem Licht, und seine Augen waren so tief wie stille Seen bei Nacht.
Er lebte hoch oben auf einem Berg, der so steil war, dass ihn kaum jemand jemals erklimmen konnte. Die Tiere des Waldes nannten ihn „den Wächter der Winde“, denn seine Flügelschläge konnten Stürme rufen und Regenwolken zerstreuen.
Aber Firion war nicht stolz oder gefährlich. Nein, Firion war ein freundlicher Drache, der lieber Musik hörte als zu kämpfen, lieber las als Feuer spie, und der jeden Abend den Sonnenuntergang betrachtete, als wäre es ein Gedicht, das sich die Welt selbst schrieb. Nur eines machte ihn traurig – er hatte einst ein Königreich beschützt, das nun verschwunden war, wie von der Erde verschluckt.
Das Königreich hieß Elaria. Es lag in einem Tal voller leuchtender Blumen, sprechender Bäume und tanzender Lichter. Dort lebten Menschen und Fabelwesen in Frieden. Die Häuser waren aus schimmerndem Stein gebaut, ihre Dächer glänzten wie der Tau auf einer Morgenspinne. Kinder lachten auf den Plätzen, Einhörner tranken aus silbernen Bächen, und aus den Fenstern klang Musik.
Doch eines Tages geschah etwas Schreckliches. Ein Schatten fiel über das Tal. Es war kein gewöhnlicher Schatten, sondern ein uralter Fluch, geboren aus Eifersucht und Gier. Ein verbannter Zauberer, einst aus Elaria verstoßen, hatte einen Zauber gesprochen, der das ganze Königreich verbarg – nicht zerstörte, nur versteckte.
„Niemand soll Elaria wiederfinden, solange kein Herz sich selbst verschenkt,“ hatte er gesagt. Und so verschwand Elaria im Nebel, der undurchdringlich war und in alle Richtungen führte – aber niemals zu dem, was wirklich zählte.
Firion, der damals schlief, erwachte zu spät. Als er aufstand, war das Tal leer. Kein Laut, kein Licht, kein Duft mehr. Nur Nebel und Schweigen. Seitdem suchte Firion, Jahr für Jahr, jede Lichtung, jedes Tal, jeden Hügel. Doch Elaria blieb verschwunden.
Viele hundert Jahre später, in einer klaren Vollmondnacht, geschah etwas Unerwartetes. Der Wind trug ein Lied zu Firions Höhle.
Es war nicht laut, aber es war traurig und schön – so schön, dass Firion plötzlich das Herz schwer wurde. „Dieses Lied… ich kenne es…“, flüsterte er. Er sprang auf, breitete seine riesigen Flügel aus und glitt durch die Nacht, dem Klang folgend.
Der Flug dauerte bis zur Morgendämmerung. Schließlich fand er sich über einem stillen See wieder, der wie Glas in der Sonne lag. Dort stand ein Mädchen, kaum älter als zwölf Jahre. Ihr Haar war rot wie Herbstlaub, und ihr Kleid war aus Blättern und Licht gewoben. In ihren Händen hielt sie eine Harfe, deren Saiten wie Silber funkelten.
„Ich wusste, dass du kommst,“ sagte das Mädchen, ohne Angst. Ihre Stimme klang, als hätte sie sich selbst aus dem Wind gesponnen. „Ich bin Lira, Prinzessin von Elaria. Und ich brauche dich.“
Firion landete behutsam, um das Wasser nicht aufzuwühlen. Seine Stimme war tief, doch sanft wie ein fernes Gewitter. „Elaria lebt? Ich dachte, es sei für immer verloren.“
Lira nickte, ihre Augen glänzten. „Elaria schläft. Es wurde in den Nebel verbannt. Nur ein Drachenherz kann es wecken – aber nicht durch Feuer oder Kraft, sondern durch Mut, Erinnerung und Freundschaft.“
Firion senkte seinen Kopf. In seinen Augen lag Hoffnung, aber auch Furcht. „Wenn ich mein Herz gebe, werde ich dann schwach?“
„Vielleicht. Vielleicht auch stärker als je zuvor,“ antwortete Lira. „Denn nur wer geben kann, besitzt wirklich.“
So machten sie sich gemeinsam auf den Weg. Sie durchquerten Täler voller flüsternder Bäume, deren Zweige sich wie Arme bewegten. Sie begegneten sprechenden Füchsen, schwebenden Pilzen, und einem alten Raben, der in Rätseln sprach. Sie stiegen in die Tiefen der Nebelwälder hinab, wo die Sonne kaum noch schien und jeder Laut wie ein Echo klang.
Nach drei Tagen, drei Nächten und drei Stürmen kamen sie zu einer Lichtung. In ihrer Mitte stand ein alter Stein, in den ein Herz gemeißelt war – aber das Innere des Herzens war leer.
„Hier ruht Elaria,“ sagte Lira und trat zurück. „Es wartet auf dich.“
Firion schloss die Augen. Aus seiner Brust trat ein sanftes Leuchten. Es war kein Feuer, kein Schimmer aus Gold, sondern ein Licht aus Erinnerungen – aus Liedern, Versprechen, Spielen und Träumen. Sein Herz, geformt aus Jahren der Hoffnung und Liebe. Er setzte es vorsichtig in das steinerne Herz.
Plötzlich begann die Luft zu singen. Der Boden bebte. Bäume reckten sich empor. Nebel wirbelte auf wie tanzender Staub. Ein Lichtstrahl stieg in den Himmel, heller als alles, was je geleuchtet hatte.
Vor ihnen erwachte das Königreich. Die Türme stiegen aus der Erde wie Kristalle. Die Straßen erschienen aus dem Nichts, mit blühenden Bäumen und goldenen Laternen.
Die Bewohner, Menschen und Fabelwesen, kehrten zurück, als hätten sie nur geschlafen. Kinder lachten. Harfen erklangen. Einhörner galoppierten über Wiesen, und Glühwürmchen zeichneten Muster in den Himmel.
Lira nahm Firions Pranke und flüsterte: „Du hast uns gerettet. Du bist der wahre Hüter von Elaria.“
Firion fühlte sich leichter als je zuvor. Und obwohl ein Teil von ihm nun in jenem Stein ruhte, fühlte er sich nicht schwächer – sondern voller, lebendiger, und geliebt. Er blieb in Elaria, nicht als Wächter, sondern als Freund. Er erzählte Geschichten, bewachte Träume, flog mit Kindern über die Türme und summte Lieder, die von Mut und Vertrauen handelten.
Und wenn nachts der Wind durch das Tal wehte, konnte man manchmal eine Stimme hören, die sagte: „Solange jemand sich erinnert, ist nichts wirklich verloren.“
Und in diesem Zauber schlief das Land in Frieden. So endet diese Geschichte – nicht mit einem Ende, sondern mit einem Versprechen. Dass alles, was einmal geliebt wurde, irgendwo weiterlebt.
Gute Nacht, kleiner Träumer.
Schlaf gut, du Hüter deiner eigenen Geschichten.