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Das Herz in der Pfütze - Vorlesegeschichte

  • Autorenbild: Michael Mücke
    Michael Mücke
  • 29. Mai
  • 4 Min. Lesezeit

Die Kinder halten das Herz in ihren Händen

Es war einmal ein kleines Dorf namens Wiesengrund, eingebettet zwischen weichen Hügeln, dichten Wäldern und endlosen Wiesen, auf denen Wildblumen in allen Farben blühten.


Die Menschen dort lebten ruhig, fast wie in einem Traum aus alten Zeiten, in Häusern mit roten Dächern und weißen Fensterrahmen, aus denen oft das Lachen von Kindern und der Duft von frisch gebackenem Brot strömte.


In einem dieser Häuser wohnte ein Junge namens Jonathan. Er war acht Jahre alt, hatte hellblonde Haare, die immer ein bisschen durcheinander waren, und Augen so grün wie das frische Laub im Frühling. Seine Familie war nicht wohlhabend, aber in dem kleinen Haus voller Bücher, Decken und warmer Lichter fühlte sich jeder Tag an wie ein Fest. Seine Mutter, Amalia, war Floristin und brachte die Natur ins Haus, selbst im Winter.


Sein Vater, Theo, war ein stiller, aber herzlicher Mann, der in der kleinen Bibliothek des Dorfes arbeitete und Jonathan abends oft Geschichten vorlas. Und dann war da noch seine kleine Schwester Marla, gerade mal vier Jahre alt, mit einem Lachen, das wie Glockenklang klang.


An einem Nachmittag, als der Himmel noch silbergrau war vom letzten Sommerregen, zog es Jonathan und Marla hinaus in den Garten. Überall glänzten noch kleine Tropfen auf den Blättern, und das Gras war weich und kühl unter den nackten Füßen. Zwischen den Obstbäumen hatten sich unzählige Pfützen gesammelt, die im Licht schimmerten wie kleine Spiegel.


„Warte auf mich, Jona!“ rief Marla und hüpfte über einen flachen Wasserfleck, während ihre Gummistiefel das Wasser aufwirbelten. Jonathan drehte sich um und grinste.


„Ich bin hier, Marli. Komm, da hinten ist eine richtig große Pfütze!“


Sie rannten Hand in Hand zur größten Stelle im Garten, wo das Regenwasser eine kleine Mulde gefüllt hatte. Dort, ganz in der Mitte, lag etwas, das überhaupt nicht dort hingehörte. Es war rundlich, rot und glänzte wie eine Glasperle – aber als sie näherkamen, erkannten sie, dass es kein gewöhnlicher Stein war.


„Das sieht aus wie ein Herz,“ flüsterte Marla ehrfürchtig.


Jonathan kniete sich hin, sah genauer hin und nickte. Es war tatsächlich die Form eines Herzens, glatt, warm leuchtend und doch ganz still. Und dann, ganz plötzlich, sprach es. Nicht laut, nicht mit einer Stimme wie ein Mensch, sondern mit einer zarten, klingenden Melodie, die direkt in ihre Gedanken floss.


„Ihr habt mich gefunden. Ich habe so lange gewartet.“


Marla klammerte sich an Jonathans Ärmel. „Wer spricht da?“


„Ich bin das Herz von jemandem, der es verloren hat,“ erklang es wieder, sanft wie eine Berührung im Wind. „Ich habe geweint, so lange, bis ich zu Wasser wurde. Und das Einzige, was von mir blieb, ist dieses kleine Stück Erinnerung.“


Jonathan hielt das Herz ganz vorsichtig in den Händen. Es war nicht schwer, aber es pochte leicht, als ob es lebendig wäre. Er wusste sofort, dass es kein gewöhnliches Herz war. Es war voller Geschichte, voller Schmerz und Sehnsucht.

„Wem gehörst du?“ fragte er leise.


„Einem Mann, der vergessen hat, wie man liebt. Er wohnt allein, am Rande des Dorfes. Sein Herz wurde still, als sein kleines Mädchen starb. Er glaubte, die Welt sei nicht mehr schön.“


Marla sah zu Jonathan hoch. Ihre Augen waren groß und ernst. „Wir müssen es ihm zurückbringen. Niemand darf ohne sein Herz leben.“


Also machten sich die Geschwister auf den Weg. Sie trugen das Herz in einem alten Marmeladenglas, das sie mit einem weichen Taschentuch ausgepolstert hatten. Der Regen hatte aufgehört, aber die Straßen waren noch feucht, und der Duft von nassem Laub lag in der Luft. Die Bäume am Wegrand wiegten sich im Wind, als wollten sie sie begleiten.


Am Rande des Dorfes stand ein Haus, das alle kannten, aber nur wenige besuchten. Es gehörte Herrn Falk, einem ehemaligen Musiklehrer, der früher immer gelächelt und die Kinder mit seinem Akkordeon begleitet hatte. Doch seit vielen Jahren hatte niemand ihn singen hören. Die Fenster waren verhangen, der Garten verwildert, und der Briefkasten hing schief.


Jonathan atmete tief ein und klopfte. Ein Rascheln, ein Zögern – dann öffnete sich die Tür langsam. Herr Falk war groß, mit weißem Haar und einem Gesicht, das aussah, als sei es aus Stein gemeißelt. Seine Stimme war tief und müde.

„Was wollt ihr?“


Jonathan trat einen Schritt vor. „Wir haben etwas für Sie. Etwas, das zu Ihnen gehört.“


Marla hielt das Glas hoch. Das Herz leuchtete noch immer, nun ein wenig heller.

Herr Falk starrte lange hinein. Dann nahm er das Glas mit zitternden Händen. „Das… das ist unmöglich.“


„Aber wahr,“ sagte Marla schlicht. „Es hat auf Sie gewartet.“


Tränen traten in Herrn Falks Augen. Ganz langsam hob er das Herz aus dem Glas und hielt es an seine Brust. Ein feiner Klang erfüllte die Luft – wie eine Melodie, die man fast vergessen hatte. Die Wolken über dem Haus lichteten sich. Die Gardinen bewegten sich, als würden sie tanzen. Etwas in seinem Gesicht löste sich. Und dann – ein Lächeln. Ein echtes, trauriges, wunderschönes Lächeln.


„Ich… danke euch. Ich glaube, ich habe wieder etwas zu erzählen.“


An diesem Abend öffnete Herr Falk seine Tür weit. Er lud Jonathan und Marla in sein Wohnzimmer ein, wo das Akkordeon staubig auf einem Stuhl wartete. Zum ersten Mal seit vielen Jahren berührten seine Finger wieder die Tasten. Und leise, fast zaghaft, begann er zu spielen.


Zurück zu Hause erzählten die Kinder ihren Eltern, was geschehen war. Amalia hörte zu, ohne zu unterbrechen, und drückte ihre Kinder ganz fest an sich. Theo sah lange aus dem Fenster und flüsterte schließlich: „Manchmal kann das Herz Wege gehen, die wir nicht verstehen. Aber es findet immer wieder heim.“


Und so schliefen Jonathan und Marla an diesem Abend mit dem Gefühl ein, etwas Bedeutendes getan zu haben. Draußen rauschte der Wind durch die Bäume, und irgendwo ganz leise sang ein Herz sein Lied – das Lied vom Finden, vom Erinnern, vom Lieben.

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