Das geheime Königreich im Schuhkarton - Gute-Nacht-Geschichte
- Michael Mücke
- 24. Mai
- 3 Min. Lesezeit

Kristina war ein ganz besonderes Mädchen. Sie war neun Jahre alt, trug am liebsten ihren gelben Lieblingspulli und hatte eine große Sammlung von geheimen Dingen: bunte Steine, vergessene Knöpfe, alte Postkarten und kleine Schlüssel ohne Schloss.
In ihrem Zimmer unter dem Dach war alles ein bisschen durcheinander, aber auf eine gute Art. Genau in diesem Chaos lag auch ihr größtes Geheimnis: ein alter, brauner Schuhkarton unter dem Bett.
Er sah ganz gewöhnlich aus. Ein bisschen staubig, mit einem Riss an der Seite. Doch Kristina wusste schon lange, dass er nicht einfach nur ein leerer Karton war. Sie hatte ihn auf dem Dachboden bei ihrer Urgroßtante gefunden, eingewickelt in altes Papier. Auf dem Deckel stand mit goldener Schrift: „Nur für das Kind mit dem offenen Herzen.“
An einem regnerischen Abend, als der Wind gegen das Fenster pustete und es im Haus ganz still war, schob Kristina den Karton unter dem Bett hervor. Sie setzte sich im Schneidersitz davor, nahm einen tiefen Atemzug – und hob vorsichtig den Deckel.
Zuerst passierte gar nichts.
Dann fühlte sie ein Kitzeln an den Fingern, als hätte jemand mit Federflügeln über ihre Hand gestrichen. Ein leises, klingendes Geräusch erfüllte das Zimmer, wie ein Lied, das man fast vergessen hatte. Und dann, mit einem kleinen „Plopp“, war Kristina nicht mehr in ihrem Zimmer.
Sie stand mitten in einem Wald, der in sanftem Licht leuchtete. Die Blätter der Bäume waren silbern, und der Boden war weich wie Moos. Es roch nach Vanille, Regen und frisch gebackenem Brot. Kristina blinzelte und sah ein großes, verschnörkeltes Schild an einem Baum. Darauf stand:„Willkommen im geheimen Königreich Lirandor.“
Ein kleines Wesen, kaum größer als ein Eichhörnchen, kam aus dem Gebüsch gehüpft. Es hatte moosiges Fell, große Augen und trug eine winzige Weste mit Taschen.
„Hallo Kristina,“ piepste es freundlich, „ich bin Tyll, dein Begleiter. Möchtest du Lirandor entdecken?“
Kristina staunte. „Woher kennst du meinen Namen?“
„Wir kennen alle Kinder, die noch träumen können,“ sagte Tyll und kicherte. „Komm mit. Ich zeig dir alles!“
Und so begann Kristinas große Entdeckungsreise.
Zuerst gingen sie durch das Dorf der Flügelkinder. Diese Kinder hatten durchsichtige, glitzernde Flügel und bauten Häuser aus Sonnenstrahlen und Blütenblättern. Sie spielten auf schwebenden Steinen und erzählten Geschichten, die man nur hören konnte, wenn man die Augen schloss.
Ein Mädchen mit Haaren wie Nebel sagte zu Kristina: „Hier in Lirandor wächst alles aus Träumen. Sogar die Straßen.“
Weiter ging es durch einen Wald, in dem Bäume sprachen. Einer der Bäume hatte ein Gesicht im Stamm und sagte mit tiefer Stimme: „Ich bin über dreitausend Jahre alt. Ich habe gesehen, wie die Berge laufen lernten.“
Kristina lachte und fragte: „Und wohin sind sie gelaufen?“
Der Baum antwortete: „Ins Tal, wo der Schlaf wohnt.“
Dann kamen sie zur Bibliothek der Wolken. Hier schwebten Bücher durch die Luft und suchten sich selbst Leser aus. Ein Buch landete auf Kristinas Schoß. Es öffnete sich von allein, und plötzlich stand sie mitten in einer Geschichte, als Figur, nicht als Leserin. Sie war ein Schmetterlingsritter, der auf einem Käsekuchenberg gegen einen Sturm aus Seifenblasen kämpfte.
Als sie wieder auftauchte, lachte Tyll. „Die Bücher hier sind sehr neugierig. Sie wollen wissen, wie du die Geschichten fühlst.“
Später traf sie eine Gruppe von Tieren, die sprechen konnten. Ein Fuchs mit einem Hut erzählte Witze, ein Kaninchen kochte Karottenmarmelade, und ein Rabe malte mit seinem Schnabel Bilder in den Sand. Kristina durfte auch ein Bild malen – eine große goldene Tür. Als sie fertig war, öffnete sich plötzlich eine echte Tür genau an der Stelle im Sand.
„Deine Fantasie ist der Schlüssel,“ sagte der Rabe und verneigte sich.
Am letzten Tag in Lirandor zeigte Tyll ihr einen besonderen Ort: eine Wiese voller Glühwürmchen, die Geschichten leuchteten. Jedes Licht war eine Erinnerung, ein Traum, ein Gedanke von einem Kind aus der Welt, aus der Kristina kam.
„Solange Kinder träumen und neugierig sind, bleibt unser Königreich lebendig,“ sagte Tyll sanft. „Du bist jetzt ein Teil davon.“
Kristina fühlte sich warm und glücklich. Sie hatte so viel gesehen, so viel gelernt – nicht mit Büchern, sondern mit Herz und Augen und Ohren.
Dann kam wieder das leise Kitzeln, das Flüstern, der Glockenton.
Kristina blinzelte – und saß wieder in ihrem Zimmer. Der Karton lag offen vor ihr. Kein Glanz, kein Geräusch mehr. Doch in ihrer Hand lag ein kleiner, schimmernder Stein, der in vielen Farben leuchtete, ein Geschenk aus Lirandor.
Sie lächelte, kletterte ins Bett und flüsterte: „Ich werde alles behalten. Und ich werde davon erzählen.“
Dann schloss sie die Augen und träumte weiter. Denn manche Reisen enden nie wirklich, solange man das Herz offenhält.