Bruno der Bär besucht Asien - Kinder-Gute-Nacht-Geschichte zum Vorlesen
- Michael Mücke
- 2. Juni
- 5 Min. Lesezeit

Bruno der Bär war kein gewöhnlicher Bär. Er lebte zwar tief im Wald, schlief im Winter tief und fest, und sammelte im Sommer eifrig Beeren und Honig, doch Bruno hatte eine Besonderheit: Er war unendlich neugierig. Wenn andere Bären dösten, schnüffelte Bruno an alten Landkarten, die er im Rucksack eines vergesslichen Wanderers gefunden hatte. Wenn andere in der Sonne lagen, beobachtete Bruno die Sterne und fragte sich, wie die Welt wohl jenseits des Horizonts aussah.
Eines Abends, als der Himmel in goldenes Licht getaucht war, hatte Bruno einen ganz besonderen Traum. Er sah riesige Städte mit leuchtenden Schriften, schwimmende Märkte auf glitzernden Flüssen, friedliche Tempel zwischen grünen Reisfeldern und Tiere, die er noch nie gesehen hatte. Als er aufwachte, war ihm klar: „Ich muss Asien sehen. Ich will alles mit eigenen Augen erleben.“
Er packte seinen kleinen, abgewetzten Rucksack. Ein Honigglas durfte nicht fehlen, ebenso wenig sein Kompass, ein Fernrohr und das Notizbuch, in das er seine Beobachtungen zeichnete. Und natürlich seine Lieblingsmütze – die mit dem aufgestickten Fisch.
Nach einer langen Schiffsreise stand Bruno eines Morgens in Japan. Er war in der Stadt Kyoto angekommen, die für ihre alten Tempel und bunten Gärten bekannt war. Überall blühten Kirschbäume – Sakura, wie die Einheimischen sagten. Die zarten, rosafarbenen Blüten wirbelten durch die Luft wie Schneeflocken aus Seide.
Eine alte Dame in einem Kimono bemerkte Brunos Staunen und lächelte: „Sakura ist nicht nur schön – sie erinnert uns daran, dass alles im Leben vergänglich ist. Darum feiern wir sie mit Hanami, dem Blütenfest.“
Die Menschen saßen auf Decken im Park, aßen Reisbällchen und lachten. Bruno setzte sich dazu und probierte Mochi, kleine Reiskuchen, die überraschend süß schmeckten.
Am nächsten Tag besuchte Bruno ein traditionelles Teehaus. Dort durfte er an einer Teezeremonie teilnehmen. Der Tee wurde langsam und mit großer Ruhe zubereitet. Ein junger Mann erklärte ihm: „Jede Bewegung bei der Teezeremonie ist bedeutungsvoll. Es geht um Achtsamkeit und Respekt.“
Bruno war beeindruckt, wie viel Geduld in dieser Kunst steckte. Auch das Sitzen auf dem Boden war für einen Bären gar nicht so leicht – aber Bruno strengte sich an.
Nach Japan reiste Bruno mit der Fähre weiter nach China. Sein Ziel war die Stadt Xi’an – einst Hauptstadt des chinesischen Kaiserreichs und berühmt für die Terrakotta-Armee. Tausende tönerne Krieger standen dort, jede Figur ein wenig anders, als ob sie lebendig wären.
Eine Museumsführerin mit rundem Hut sagte: „Der erste Kaiser Chinas ließ sie vor über 2000 Jahren errichten. Sie sollen ihn im Jenseits beschützen.“ Bruno malte in seinem Notizbuch besonders sorgfältig einen Krieger mit strengem Blick und langem Bart.
Anschließend wanderte Bruno zur Großen Mauer. Sie war viel größer, als er sich vorgestellt hatte – sie zog sich über Hügel, Berge und Täler, so weit das Auge reichte. Der Wind wehte ihm durch das Fell, und er stellte sich vor, wie Wachen vor langer Zeit dort patrouillierten.
„Wie viele Steine das wohl sind?“, murmelte er. Ein Kind antwortete lachend: „Über eine Milliarde! Die Mauer ist über 20.000 Kilometer lang.“
In einem Bambuswald begegnete Bruno einem gemütlichen Pandabären namens Ping. Der Panda kaute behutsam auf einem Bambusrohr herum und winkte ihm zu. „Willkommen in Sichuan, Freund. Bambus ist köstlich – willst du
probieren?“ Bruno biss ein Stück ab, kaute lange und sagte dann ehrlich: „Ich bleibe doch lieber bei Honig.“ Die beiden Bären verbrachten den Nachmittag miteinander, kletterten durch das dichte Bambusgrün und ruhten sich in einem schattigen Tal aus. Ping erzählte ihm, dass Pandas sehr selten seien und unter Schutz stehen.
„Wir Pandas leben am liebsten ruhig und essen fast den ganzen Tag.“ Bruno grinste.
„Ich glaube, wir wären gute Freunde.“
Mit dem Zug reiste Bruno weiter nach Indien. Die Landschaft veränderte sich: grüne Felder, kleine Dörfer mit bunten Häusern und laute Städte mit unzähligen Rikschas und Mopeds. Bruno besuchte Varanasi, eine der ältesten Städte der Welt. Dort sah er den Ganges, den heiligen Fluss, und beobachtete, wie Menschen Blumen und Lichter ins Wasser setzten.
Ein alter Mann erklärte ihm: „Der Ganges ist für uns heilig. Viele Menschen kommen hierher, um zu beten, zu danken oder sich zu verabschieden.“
In Rajasthan durfte Bruno bei einem Fest mitfeiern, bei dem Elefanten geschmückt wurden. Er ritt sogar auf einem dieser sanften Riesen. Der Elefant hieß Gopal und hatte goldene Muster auf den Ohren gemalt bekommen.
Gopal erzählte ihm in seiner tiefen Stimme: „Wir Elefanten sind klug und erinnern uns gut. Manche von uns leben viele Jahrzehnte mit denselben Mahouts – unseren Pflegern.“
Am beeindruckendsten fand Bruno den Taj Mahal. Das Mausoleum aus weißem Marmor glänzte im Morgenlicht.
„Er sieht aus wie aus einem Traum,“ flüsterte Bruno.
Eine junge Frau erzählte ihm, dass der Palast ein Symbol für ewige Liebe sei. Der Kaiser Shah Jahan hatte ihn für seine verstorbene Frau Mumtaz Mahal erbauen lassen. Bruno war still und schaute lange auf das Wasserbecken, das die Kuppel spiegelte.
Zum Schluss reiste Bruno nach Südostasien, nach Thailand. Dort traf er in Chiang Mai auf freundliche Mönche mit orangefarbenen Gewändern. Einer von ihnen, ein junger Novize, zeigte Bruno den Wat Phra That Doi Suthep, einen goldenen Tempel auf einem Hügel. Von dort oben konnte Bruno die ganze Stadt sehen.
„Meditation hilft uns, das Herz zu reinigen,“ erklärte der Novize. Bruno versuchte es – er setzte sich still hin, atmete tief ein und aus, und spürte, wie sein Herz ganz leicht wurde.
In Bangkok besuchte er einen schwimmenden Markt. Boote voller Kokosnüsse, Mangos und duftenden Gewürzen schwammen auf einem verzweigten Kanal. Bruno probierte gebratene Bananen, trank süßen Kokosmilchsaft aus einer echten Kokosnuss und bewunderte die Geduld der Händler, die jedes Boot balancierten wie ein Tänzer auf einem Seil. „In Thailand geht alles ein bisschen langsamer,“ meinte ein Mann mit Strohhut. „Aber mit viel Lächeln.“
Bruno hatte so viel gesehen, gelernt, probiert und gestaunt. Er hatte neue Freunde gefunden, seine Pfoten in fremde Erde gesetzt, unbekannte Tiere gesehen und war ein Stück gewachsen – nicht nur im Bauch, sondern auch im Herzen.
Als er nach vielen Wochen endlich wieder in seiner Höhle ankam, war es bereits Abend. Die Sterne funkelten wie kleine Lampions am Himmel.
Bruno setzte sich auf seinen Lieblingsstein, schaute lange in die Nacht und schrieb in sein Notizbuch: „Asien war größer, bunter und schöner, als ich es mir je vorgestellt hatte. Die Menschen waren freundlich, die Geschichten voller Wunder, und die Welt ist viel weiter, als ich dachte.“
Dann legte er sich in sein weiches Moosbett, kuschelte sich tief in seine Decke und flüsterte leise: „Danke, Asien. Ich komme wieder, ganz bestimmt.“
Und während draußen leise der Wind durch die Bäume strich, träumte Bruno von Pandas im Bambus, goldenen Tempeln und einem Drachen, der über die Dächer Kyotos flog.
Und so schlief er ein – zufrieden, voller neuer Geschichten, und bereit für neue Träume.