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Anna die Ballerina - Gute-Nacht-Geschichte

  • Autorenbild: Michael Mücke
    Michael Mücke
  • 27. Mai
  • 4 Min. Lesezeit

Anna tanzt mit ganzer Leidenschaft

Es war einmal ein kleines, schüchternes Mädchen namens Anna, das in einem malerischen Dorf am Rande eines tiefgrünen Waldes lebte. Das Dorf war klein, fast wie aus einem Bilderbuch, mit weißen Häuschen, die rote Dächer hatten, und bunten Blumengärten vor jedem Fenster.


Anna war acht Jahre alt, hatte große, dunkle Augen, die neugierig in die Welt blickten, und lange, braune Zöpfe, die ihr beim Laufen über die Schultern flogen. Doch obwohl sie viel zu sagen hatte, sprach sie kaum.


Anna war still, sehr still. In der Schule meldete sie sich nie, selbst wenn sie die Antwort kannte. Beim Spielen mit anderen Kindern blieb sie meist am Rand stehen und beobachtete. Ihre Eltern, die sie von Herzen liebten, machten sich oft Sorgen. Ihre Mutter, eine Schneiderin, und ihr Vater, ein Uhrmacher, sagten sich oft: „Sie hat so viel in sich, aber sie weiß nicht, wie sie es zeigen kann.“


Was kaum jemand wusste: Anna hatte ein Geheimnis. In einer alten, geschnitzten Holztruhe unter ihrem Bett lag ein Paar rosa Ballerinaschuhe. Die Schuhe waren weich wie Pfirsichhaut und schimmerten zart im Licht, als wären sie von Feenhand gemacht. Ihre Mutter hatte sie einst für sie genäht, aus Stoffresten eines vergessenen Ballkleids.


Seit Anna sie zum ersten Mal getragen hatte, war nichts mehr wie vorher gewesen.

Jeden Abend, wenn das Licht hinter den Hügeln verschwand und der Himmel langsam in samtiges Dunkelblau überging, schlich sich Anna in ihr Zimmer. Sie zog leise die Truhe hervor, schlüpfte in ihre Ballerinaschuhe und schloss die Augen.


Sobald ihre Füße den weichen Stoff berührten, veränderte sich die Welt um sie herum. Das Zimmer wurde größer, die Wände verschwanden, und plötzlich stand sie auf einer riesigen, leuchtenden Bühne, umgeben von goldenen Vorhängen, die sich lautlos öffneten.


„Jetzt bin ich da,“ flüsterte sie dann jedes Mal.


Ihre Bewegungen wurden leicht wie der Wind, ihr Körper folgte der Musik, die nur sie hören konnte. Mit jedem Schritt tanzte sie Sorgen und Ängste davon. Sie drehte sich, sprang, glitt über den unsichtbaren Boden, als sei sie schwerelos. Es war, als spräche sie in einer Sprache, die nur ihr Körper kannte – und sie war wunderschön darin.


Eines Abends jedoch geschah etwas Seltsames. Als Anna gerade zu tanzen begann, flackerte das Licht in ihrem Zimmer. Ein leiser Wind wehte durch das Fenster, das eigentlich geschlossen gewesen war. Sie öffnete die Augen und staunte.


Um sie herum war nicht mehr ihr Zimmer, sondern ein großer, mit Mondlicht überfluteter Saal. Die Wände bestanden aus glänzenden Spiegeln, der Boden war aus Kristall, und in der Mitte stand ein alter Flügel, auf dem sich niemand anderes als eine alte Dame mit silbernen Haaren leise durch die Tasten spielte.


„Willkommen, Anna,“ sagte die Frau mit einer Stimme wie warmer Honig. „Ich habe dich tanzen sehen.“ Anna traute sich kaum zu sprechen. Doch etwas in der Stimme der Dame ließ sie fühlen, dass sie sicher war. „Wo bin ich?“ flüsterte sie. Die Dame lächelte.


„Du bist dort, wo Musik lebt. Wo Tanz beginnt. Du bist im Saal der Träume.“


Von da an kam Anna jede Nacht dorthin. Der Saal war voller Wunder. Schmetterlinge aus Licht begleiteten ihre Bewegungen, unsichtbare Hände streuten Sternenstaub über den Boden, und jede Pirouette ließ Farben durch die Luft wirbeln. Manchmal sah sie andere Kinder dort – Kinder, die ebenfalls tanzten, lachten, frei waren. Keiner sprach, doch alle verstanden einander.


Doch in der echten Welt blieb Anna still. Ihre Eltern bemerkten, dass sie in letzter Zeit abends besonders leuchtende Augen hatte. „Hast du geträumt?“ fragte ihr Vater eines Morgens. Anna nickte nur und sagte leise: „Es war wunderschön.“


Eines Tages kündigte die Schule einen kleinen Talentabend an. Kinder konnten singen, Instrumente spielen oder etwas vorführen. Als Annas Lehrerin fragte, ob sie teilnehmen wolle, senkte Anna den Blick. Doch dann, fast unmerklich, hob sie die Hand.


„Ich möchte tanzen.“ Die Klasse war still. Niemand hatte Anna je tanzen gesehen.


Am Abend des Auftritts war der Saal der Schule voll. Lichter brannten warm, die Bühne war geschmückt mit goldenen Stoffbahnen und Papiersternen. Anna stand hinter dem Vorhang, die Ballerinaschuhe fest an den Füßen geschnürt. Ihr Herz klopfte laut, ihre Hände zitterten. Doch dann schloss sie die Augen – und sie war wieder da. Der Spiegelsaal, der Flügel, der Sternenstaub. Sie atmete tief ein. Und trat auf die Bühne.


„Jetzt bin ich da,“ sagte sie leise zu sich selbst. Musik erklang. Und Anna tanzte.

Sie tanzte nicht perfekt, nicht wie eine professionelle Tänzerin. Aber sie tanzte mit ganzem Herzen, mit jeder Faser ihres Wesens. Und das sah jeder.


Die Zuschauer hielten den Atem an. Ein Mädchen, das kaum ein Wort sprach, erzählte plötzlich eine ganze Geschichte – mit ihren Füßen, ihren Armen, ihrem ganzen Körper. Und als sie sich am Ende verbeugte, war es für einen Moment ganz still.


Dann brach tosender Applaus aus. Ihre Mutter wischte sich Tränen aus den Augen. Ihr Vater stand auf und rief: „Das ist meine Tochter!“ Anna sah in die Menge – und lächelte. Ein echtes, strahlendes, mutiges Lächeln.


An diesem Abend, als sie in ihrem Bett lag, die Schuhe neben sich auf dem Kissen, flüsterte sie: „Danke, dass ich tanzen darf.“


Und irgendwo, tief im Wald, in einem Saal aus Spiegeln und Licht, erklang leise Musik. Denn Anna, die Ballerina, hatte ihren Platz gefunden – in der Welt, und in sich selbst. Und in dieser Nacht träumte sie nicht nur.


Sie wusste: Der Traum war jetzt auch wirklich.

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