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Wie die Sterne ihren Weg fanden - eine Geschichte zur Einschlafbegleitung

  • Autorenbild: Michael Mücke
    Michael Mücke
  • 13. Okt.
  • 5 Min. Lesezeit
Elian spielt mit seiner Flöte für die Sterne

Es war einmal, in einer Zeit, die so weit zurückliegt, dass sich kein Mensch mehr an sie erinnert. Damals war der Himmel schwarz wie Samt, ohne Glanz, ohne Schimmer, ohne die kleinste Spur von Licht. Die Nacht war tief und still, und wer hinausging, konnte kaum den eigenen Atem im Dunkeln sehen.


In einem kleinen Dorf am Rande eines alten Waldes lebte ein Junge namens Elian. Er war neugierig, still und voller Fragen, die niemand beantworten konnte. Elian liebte die Nacht mehr als den Tag. Wenn alle Dorfbewohner schon schliefen, setzte er sich oft auf den Brunnenplatz und lauschte dem Rauschen des Windes.


Eines Abends fragte er seine Großmutter, die einzige, die noch Geschichten erzählte: "Großmutter, warum ist der Himmel so leer?“


Die alte Frau sah ihn lange an, ihre Augen glänzten im flackernden Licht der Kerze. „Er war nicht immer so,“ sagte sie mit leiser Stimme.


„Früher lebten dort oben die Sterne. Sie leuchteten für uns, bewachten die Nächte und zeigten den Reisenden den Weg. Doch eines Tages verschwanden sie – niemand weiß, wohin.“


Elian schwieg lange. Er spürte, wie tief diese Leere war, wie traurig die Welt ohne die Sterne wirkte. In dieser Nacht konnte er kaum schlafen. Immer wieder blickte er zum dunklen Himmel und flüsterte: „Ich möchte sie finden.“


Am nächsten Morgen packte Elian seinen kleinen Rucksack. Er legte ein Stück Brot hinein, einen Apfel, seine Holzflöte und ein altes, zerknittertes Stück Stoff, auf dem seine Großmutter einst ein Muster von funkelnden Punkten genäht hatte. „Das sind die Sterne, wie ich sie mir vorstelle,“ hatte sie gesagt.


Er wanderte fort aus dem Dorf, über Felder und Hügel, durch Regen und Nebel, bis der Wind kälter wurde und die Welt um ihn herum schweigsam erschien. Die Bäume wuchsen dichter, ihre Äste hingen schwer über dem Pfad. Elian spürte, dass er irgendwohin geführt wurde.


In der Dämmerung erreichte er eine Lichtung. In ihrer Mitte stand ein Brunnen aus schwarzem Stein, der kein Wasser, sondern Dunkelheit in sich trug. Über der Öffnung schwebte ein zartes Leuchten, kaum heller als ein Glühwürmchen.

Elian trat näher. „Hallo?“ rief er vorsichtig.


Da antwortete eine Stimme, leise wie das Rascheln von Laub: „Warum suchst du das Licht, das fortgegangen ist?“


Elian blickte umher, doch niemand war zu sehen. Nur das Leuchten über dem Brunnen zitterte, als würde es atmen. „Weil ich glaube, dass es zurückkommen kann,“ sagte er mutig.


Das Licht wurde stärker, formte sich, und eine Gestalt trat daraus hervor – durchsichtig, schimmernd, mit Haaren, die wie feine Silberfäden flossen. „Ich bin Seluna,“ sprach sie, „Hüterin der verlorenen Nächte. Ich wache über das, was einst am Himmel war.“


Elian verbeugte sich, doch seine Stimme blieb fest. „Kannst du mir sagen, wohin die Sterne gegangen sind?“


Seluna sah ihn lange an. „Sie sind in die Tiefen des Himmels gefallen,“ erklärte sie traurig. „Die Menschen vergaßen, nach ihnen zu sehen. Niemand erzählte ihre Lieder, niemand sprach mehr zu ihnen. Also schwiegen sie – und das Schweigen trug sie fort.“


Elian fühlte ein Stechen im Herzen. „Dann will ich ihnen zuhören,“ sagte er. „Ich will ihre Stimmen finden und sie zurückbringen.“


Die Hüterin legte ihre Hand auf seine Stirn, und ein warmes Licht umhüllte ihn. „Dann geh, Elian,“ sagte sie. „Finde das Tal der Schatten und das Herz des Windes. Nur dort kannst du mit den Sternen sprechen.“


Mit diesen Worten verschwand Seluna, und der Brunnen glomm in sanftem Silber. Elian machte sich auf den Weg, den er nicht kannte, doch er fühlte, dass seine Schritte richtig waren.


Die Tage wurden länger, und die Nächte begannen, leise zu flüstern. Manchmal hörte er Stimmen im Wind, kaum hörbar, aber deutlich: „Komm zu uns, kleiner Wanderer.“


Nach vielen Tagen erreichte Elian das Tal der Schatten. Kein Geräusch war dort, kein Vogel sang, kein Blatt bewegte sich. In der Mitte des Tales lag ein riesiger Stein, glatt und rund wie ein Herz. Darauf lag ein leuchtender Splitter, der schwach glomm.


Elian legte seine Hand darauf, und plötzlich sah er Bilder: endlose Dunkelheit, Funken, die wie kleine Seelen durch die Nacht trieben, und Stimmen, die klagten: „Wir haben uns verirrt… wir wissen nicht mehr, wohin wir gehören.“


Elian hob seine Flöte an die Lippen und begann zu spielen. Die Melodie war einfach, sanft, und sie trug den Klang seiner Hoffnung. Der Wind nahm die Töne auf, trug sie durch das Tal und weiter in die Höhe.


Da begannen die Schatten zu beben. Ein Funken nach dem anderen erhob sich vom Boden, tanzte in Spiralen und schwebte in den Himmel. Sie leuchteten heller, je weiter sie stiegen.


Plötzlich stand Seluna wieder neben ihm. „Du hast sie gehört,“ sagte sie mit einem Lächeln. „Du hast sie erinnert.“


Doch Elian spürte, dass noch etwas fehlte. „Nicht alle sind zurückgekehrt,“ flüsterte er.


Seluna nickte ernst. „Die letzten Sterne sind gefangen im Herz des Windes. Dorthin darf nur einer gehen, der nichts für sich selbst verlangt.“


Elian schwieg. Dann trat er in den Wind, der über das Tal wehte. Er schloss die Augen und ließ sich tragen. Er spürte, wie er sich auflöste, wie sein Körper leicht wurde wie Nebel. Als er die Augen öffnete, sah er eine endlose Weite aus Licht und Dunkelheit.

Dort schwebten die letzten Sterne, müde und schwach. Einer von ihnen sprach: „Warum suchst du uns?“


„Weil ihr fehlt,“ antwortete Elian ruhig. „Die Welt ist leer ohne euch. Kein Kind kann träumen, kein Reisender den Weg finden.“


Der Stern leuchtete ein wenig heller. „Und was gibst du uns, wenn wir zurückkehren sollen?“


Elian sah auf seine Flöte. „Mein Lied,“ sagte er. „Es gehört euch.“


Er spielte, und die Melodie war nun stärker als zuvor. Sie war voller Mut, Sehnsucht und Wärme. Einer nach dem anderen erwachten die Sterne, und als sie sich erhoben, war der Himmel über der Welt zum ersten Mal wieder hell.


Seluna erschien ein letztes Mal. „Du hast sie zurückgebracht,“ flüsterte sie. „Aber der Preis für Licht ist Erinnerung.“


Elian nickte. Er wusste, was sie meinte. Als er zurück auf die Erde fiel, erinnerte er sich nicht mehr an seine Reise, nicht an Seluna, nicht an die Sterne. Doch jedes Mal, wenn er nachts in den Himmel blickte, spürte er eine tiefe Ruhe, als würde etwas in ihm leuchten.


Und so wurden die Sterne wieder zu Wächtern der Nacht. Sie erzählten den Wind, was sie erlebt hatten, und der Wind flüsterte es weiter an die Menschen, die noch zuhören konnten.


Und manchmal, wenn die Nacht besonders klar war, hörte man eine Melodie, leise und fern, die zwischen den Sternen spielte. Dann sagten die Alten im Dorf:„Hört ihr das? Das ist Elian. Er spielt für die Sterne.“


Und irgendwo am Himmel, ganz weit oben, blinkte ein Stern heller als alle anderen – als wollte er sagen: „Wir haben den Weg gefunden.“

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