Wanda die liebe Hexe
- Michael Mücke
- 17. Nov. 2024
- 4 Min. Lesezeit

In einem kleinen, abgelegenen Tal, das von hohen, nebelverhangenen Bergen umgeben war, lag ein beschauliches Dorf mit dem Namen Sonnenhain. Die Menschen dort lebten in kleinen, gemütlichen Häusern mit Strohdächern, und ihre Felder erstreckten sich bis zu den Ausläufern des dunklen Waldes. Am Waldrand, in einer kleinen Hütte mit einem Garten, der wie ein Meer aus bunten Blumen und Kräutern aussah, lebte Wanda, die Hexe.
Wanda war anders, als man sich eine Hexe vorstellt. Sie trug keine schwarzen Kleider oder einen krummen Hut, sondern bunte, fliessende Gewänder, die sie selbst aus den Pflanzen ihrer Umgebung färbte. Ihre goldenen Augen funkelten wie Sonnenstrahlen, und ihr Lachen klang wie das Klingen von Glocken. Doch die Dorfbewohner hielten sich von ihr fern. „Hexen sind gefährlich“, sagten sie sich, obwohl niemand je gesehen hatte, dass Wanda jemandem Schaden zugefügt hätte.
Tief in ihrem Herzen wünschte sich Wanda nichts sehnlicher, als Freunde zu haben. Sie liebte die Menschen und beobachtete oft, wie die Kinder des Dorfes spielten oder die Erwachsenen miteinander lachten. Doch jedes Mal, wenn sie sich dem Dorf nähern wollte, schlossen die Leute ihre Türen und zogen die Vorhänge zu.
Eines Sommers änderte sich alles. Es begann mit einem ungewöhnlich kalten Morgen. Der Himmel war grau, und ein dichter, schwarzer Nebel rollte wie ein Ungeheuer aus den Bergen ins Tal. Er kroch über die Felder, erstickte die Farben der Blumen und liess die Ernte welken. Die Tiere im Dorf wurden unruhig, und die Kinder konnten nicht mehr draussen spielen, weil der Nebel ihre Haut brennen liess und ihnen die Luft zum Atmen nahm.
Die Dorfbewohner versammelten sich auf dem Marktplatz. „Das ist ein Fluch!“ rief eine alte Frau. „Vielleicht hat die Hexe uns verflucht, weil wir sie gemieden haben!“
Doch ein mutiger Junge namens Leo trat vor. „Ich glaube nicht, dass Wanda böse ist,“ sagte er. „Ich habe sie im Wald gesehen, als unser Hund sich das Bein gebrochen hat. Sie hat ihn geheilt, und sie hat dabei so freundlich gelächelt.“
Die Erwachsenen waren skeptisch, doch die Verzweiflung wuchs. Tag um Tag wurde der Nebel dichter, die Felder kahler und die Stimmung im Dorf düsterer. Schliesslich stimmte der Bürgermeister zu, Wanda um Hilfe zu bitten. „Aber sei vorsichtig, Leo,“ warnte er. „Wenn sie uns etwas antut, wirst du es verantworten müssen.“
Mit klopfendem Herzen ging Leo zu Wandas Hütte. Es war still, bis auf das Summen der Bienen, die in Wandas Garten umherflogen. Als Wanda die Tür öffnete und den ängstlichen Jungen sah, lächelte sie. „Du bist Leo, nicht wahr? Komm herein, Kind. Du siehst aus, als hättest du etwas Wichtiges zu erzählen.“
Leo erzählte von dem Nebel, von der Angst der Dorfbewohner und davon, dass viele glaubten, sie hätte etwas damit zu tun. Wanda hörte geduldig zu und nickte schliesslich. „Dieser Nebel ist kein gewöhnliches Wetterphänomen,“ sagte sie. „Er ist ein alter Fluch, der die Freude und das Leben aus allem zieht, was er berührt. Aber ich kann helfen. Allerdings werde ich die Unterstützung des ganzen Dorfes brauchen.“
Leo kehrte zurück und berichtete, was Wanda gesagt hatte. Die Menschen waren unsicher, doch die Not war gross, und so beschlossen sie, der Hexe zu vertrauen. Am nächsten Morgen versammelten sich alle am Waldrand, wie Wanda es gewünscht hatte.
Wanda trat aus ihrer Hütte, einen langen, schimmernden Stab in der Hand. Ihr Gesicht war ernst, doch ihre Augen strahlten Zuversicht aus. „Der Fluch ist stark,“ erklärte sie. „Aber nichts ist stärker als die vereinte Kraft von Hoffnung und Licht. Jede Familie soll eine Laterne mitbringen. Zündet darin eine Flamme an und denkt an etwas, das euch glücklich macht – etwas, das euch Hoffnung gibt.“
Die Dorfbewohner taten, was sie sagte. Zögerlich zunächst, doch bald erzählten sie sich gegenseitig von ihren schönsten Erinnerungen: Hochzeiten, die Geburt eines Kindes, die ersten Sonnenstrahlen nach einem langen Winter. Die Laternen begannen heller zu leuchten, und ihre Wärme vertrieb die Kälte des Nebels.
Wanda hob ihren Zauberstab und begann, leise zu singen. Die Worte ihres Zaubers waren fremd, aber die Melodie klang beruhigend und kraftvoll zugleich. Ein Lichtstrahl schoss aus der Spitze ihres Stabs und vereinte sich mit dem Licht der Laternen. Gemeinsam formten sie eine gewaltige, leuchtende Kugel, die sich in den Himmel erhob. Der Nebel wirbelte und zog sich zurück, bis er schliesslich vollständig verschwand.
Die Sonne brach durch die Wolken, und die Felder leuchteten wieder in sattem Grün. Die Dorfbewohner jubelten, und zum ersten Mal fühlte Wanda sich nicht mehr wie eine Aussenseiterin.
Doch sie wollte nicht aufdringlich sein und kehrte schweigend zu ihrer Hütte zurück. Da rief Leo ihr hinterher: „Wanda, bleib bei uns! Du bist unsere Freundin!“
Die anderen stimmten ein. „Wir haben dich falsch beurteilt,“ sagte der Bürgermeister. „Bitte vergib uns. Du bist ein Teil unserer Gemeinschaft.“
Von diesem Tag an war Wanda nicht mehr allein. Die Menschen kamen zu ihr, um Heilmittel für Krankheiten zu holen, Ratschläge für ihre Gärten zu bekommen oder einfach, um ihre Gesellschaft zu geniessen. Sie nannten sie „Wanda, die liebe Hexe,“ und Wanda lernte, dass wahre Freundschaft das grösste Geschenk ist, das man erhalten kann.
Das Dorf und Wanda lebten von da an in Harmonie, und der schwarze Nebel kehrte nie zurück – denn die Wärme ihrer Hoffnung und ihres Lichts hatte ihn für immer vertrieben.
Ende