Tilly, die Superheldin mit den langen Ohren - eine heldenhafte Geschichte für Kinder
- Michael Mücke

- 16. Okt.
- 5 Min. Lesezeit

Es war einmal ein kleines, sanftes Häschen namens Tilly, das in einem friedlichen Tal voller Blumen, Schmetterlinge und summender Bienen lebte. Tilly hatte weiches, hellbraunes Fell, eine kleine rosa Nase und die längsten Ohren weit und breit. Ihre Ohren waren so lang, dass sie manchmal darüber stolperte, wenn sie zu schnell hoppelte.
Doch Tilly liebte ihre Ohren – denn sie konnte mit ihnen Dinge hören, die kein anderer Hase bemerkte: das leise Rascheln der Mäuse im Gras, das Flüstern der Blätter im Wind, ja sogar das entfernte Glucksen des Baches, der hinter dem Hügel plätscherte.
Tilly war freundlich und hilfsbereit.
Wenn jemand in Not war, sprang sie sofort los, um zu helfen – ob es ein verlorenes Küken war, das nicht zu seiner Mutter zurückfand, oder ein Marienkäfer, der sich im Spinnennetz verfangen hatte. Doch manchmal fragte sie sich, ob sie wirklich etwas Besonderes war.
„Ich bin nur ein kleiner Hase mit langen Ohren,“ seufzte sie eines Morgens, als sie sich im klaren Wasser des Baches betrachtete. „Echte Helden tragen Umhänge und retten die Welt. Ich helfe nur ein bisschen hier und da.“
In diesem Moment wehte der Wind sanft durch das Gras und brachte ein Stück roten Stoff heran, das sich an einem Ast verfangen hatte. Tilly zog es vorsichtig herunter, schüttelte den Staub ab und betrachtete es neugierig.
Der Stoff glänzte in der Sonne wie ein kleiner Rubin. Kurz darauf entdeckte sie am Boden eine goldene Schnur, die vermutlich jemand verloren hatte, und eine Maske aus Moos und bunten Federn, die ein Vogel wohl gebaut, aber dann liegen gelassen hatte.
Tillys Herz begann schneller zu klopfen. „Das ist ein Zeichen!“, flüsterte sie aufgeregt. „Ein richtiges Superheldinnen-Kostüm – für mich!“
Mit geschickten Pfoten band sie sich den roten Stoff wie einen Umhang um den Hals, zog die Maske auf und schlang die goldene Schnur um ihre Taille. Dann stellte sie sich aufrecht auf einen großen Stein und blickte in den Himmel. Der Wind flatterte durch ihre langen Ohren und ließ den Umhang flattern wie Flammen.
„Ab heute bin ich Tilly, die Superheldin mit den langen Ohren!“, rief sie stolz. „Und ich werde allen helfen, die meine Hilfe brauchen!“
Mit kräftigen Sprüngen hoppelte sie los, bereit für ihr erstes Abenteuer.
Ihr Weg führte sie zunächst zum Teich am Waldrand. Dort saß Frida, die grüne Froschdame, auf einem Seerosenblatt und sah sehr besorgt aus. „Was ist los, Frida?“, fragte Tilly.
„Oh, Tilly,“ seufzte Frida, „meine Kaulquappen kommen nicht ins tiefe Wasser! Ein dicker Ast blockiert den Weg, und ich schaffe es nicht, ihn zu bewegen!“
Tilly legte entschlossen die Pfoten an die Hüften. „Keine Sorge, Super-Tilly ist da!“ Sie atmete tief ein, sprang mutig ins Wasser und paddelte mit kräftigen Bewegungen auf den Ast zu.
Ihre langen Ohren schwammen wie zwei kleine Segel hinter ihr her. Mit aller Kraft schob sie den Ast beiseite, bis der Weg frei war. Die Kaulquappen glitten glücklich ins Wasser hinaus und tanzten in der Sonne. Frida quakte vergnügt.
„Oh, danke, Super-Tilly! Ohne dich hätte ich das nie geschafft!“
Tilly lächelte stolz. „Das ist der Job einer Superheldin!“, sagte sie und schüttelte sich das Wasser aus dem Fell.
Als sie weiterhoppelte, hörte sie plötzlich ein jämmerliches Winseln. Unter einem Apfelbaum stand der kleine Igel Hugo und blickte traurig nach oben. Hoch über ihm hing ein praller, roter Apfel, doch er konnte ihn einfach nicht erreichen.
„Was ist passiert, Hugo?“, fragte Tilly freundlich.
„Ich wollte nur diesen Apfel pflücken,“ schniefte Hugo, „aber ich bin zu klein. Und jedes Mal, wenn ich es versuche, rolle ich wieder runter.“
Tilly grinste unter ihrer Moosmaske. „Keine Sorge! Super-Tilly erledigt das!“
Sie nahm Anlauf, sprang geschickt auf einen Ast, balancierte ein paar Schritte nach vorne und stupste den Apfel mit der Nase an. Der Apfel fiel direkt vor Hugos Füße, und der kleine Igel quietschte vor Freude.
„Du bist unglaublich, Tilly! Äh, ich meine… Super-Tilly!“
„Gern geschehen,“ sagte sie mit einem Lächeln. „Für Helden gibt es keine zu hohen Bäume!“
Den ganzen Tag über erlebte Tilly neue Abenteuer. Sie half einer Ameisenfamilie, deren Blätterbrücke vom Regen fortgespült worden war, indem sie ihnen kleine Zweige sammelte. Sie tröstete ein kleines Rehkitz, das seine Mutter verloren hatte, und wartete geduldig, bis die Hirschkuh zurückkam.
Sie entwirrte einen Dachs, der sich in Brombeerranken verfangen hatte, und sogar einer Eule, die sich in der Dunkelheit verirrt hatte, wies sie den Weg zurück zu ihrem Baum.
Überall hörte sie begeisterte Stimmen: „Danke, Super-Tilly!“, „Du bist unsere Heldin!“, „Ohne dich wären wir verloren!“
Als die Sonne langsam hinter den Hügeln versank, setzte sich Tilly erschöpft, aber glücklich auf eine Wiese. Ihr Umhang war ein wenig schmutzig, ihre Maske klebte schief, und ihre Pfoten waren müde.
Doch ihr Herz fühlte sich so leicht an wie noch nie.
Da kam ein kleiner Spatz angeflogen und ließ sich neben ihr nieder. Er neigte neugierig den Kopf und fragte: „Warum trägst du eigentlich dieses Kostüm?“
Tilly lächelte. „Weil ich eine Superheldin bin. Mit dem Kostüm bin ich mutiger. Es erinnert mich daran, dass ich stark sein kann.“
Der Spatz pickte nachdenklich in den Boden. „Aber warst du nicht schon mutig, bevor du das Kostüm hattest? Ich habe dich früher schon gesehen. Du hast mal ein Wiesel verjagt, das ein Vogelnest stehlen wollte. Da hattest du keinen Umhang, oder?“
Tilly schwieg einen Moment. Die Erinnerung kam ihr wieder. Sie hatte tatsächlich schon vorher geholfen – einfach so, weil sie es wollte, nicht, weil sie dachte, sie müsse ein Held sein.
Langsam nahm sie den roten Stoff ab, legte die Maske neben sich und seufzte. Der Abendwind wehte sanft über ihre langen Ohren.
„Weißt du was, kleiner Spatz?“, sagte sie leise. „Ich glaube, du hast recht. Ich brauche kein Kostüm, um eine Heldin zu sein. Ich bin Tilly – und das reicht.“
Der Spatz zwitscherte fröhlich. „Genau so ist es! Ein gutes Herz ist das beste Kostüm der Welt.“
Von diesem Tag an trug Tilly ihren Umhang nicht mehr. Sie hing ihn in ihrer Höhle auf, direkt über dem Eingang, wo er im Wind leise flatterte – als Erinnerung daran, was sie gelernt hatte.
Sie half weiter, wie sie es immer getan hatte, aber nun mit einem neuen Gefühl im Herzen. Wenn jemand Hilfe brauchte, war Tilly da – nicht, weil sie eine Superheldin sein wollte, sondern weil sie einfach Tilly war: freundlich, mutig und voller Herz.
An einem Abend, als die Sterne besonders hell leuchteten und die Grillen leise sangen, saß Tilly wieder auf dem Hügel und blickte in den funkelnden Himmel.
„Vielleicht bin ich trotzdem eine Superheldin,“ flüsterte sie. „Aber eine, die kein Kostüm braucht – nur Mut, Liebe und ihre langen Ohren.“
Sie kuschelte sich in das weiche Gras, während der Mond ihr Fell silbern schimmern ließ. Der Wind rauschte leise durch das Tal, und in der Ferne rief Frida fröhlich, Hugo raschelte unter dem Apfelbaum, und die Ameisen marschierten zufrieden über ihre neue Brücke.
Tilly lächelte, schloss die Augen und flüsterte im Halbschlaf: „Helden gibt es überall – man muss sie nur hören.“
Dann schlief sie tief und friedlich ein, und über ihr glühte eine einzelne Sternschnuppe, als wollte sie sagen: Gute Nacht, Super-Tilly – du bist wunderbar, so wie du bist.




