Snorre Wirbelwind, der Wikingerprinz - Gute-Nacht-Geschichte
- Michael Mücke
- 8. Juni
- 5 Min. Lesezeit

In einem weit entfernten Land, nördlich von Sturmklippen und westlich der flüsternden Nebelinseln, lag das kleine, stolze Wikingerreich Lyngfjord. Die Menschen dort lebten friedlich zwischen Fjorden, Fichtenwäldern und endlosen Sommerhimmeln. Sie kannten weder Krieg noch Gier, sondern ehrten die Natur, die Götter und ihre Geschichten.
Mitten im Herzen dieses Reiches stand eine große Halle aus hellem Birkenholz. Ihre Wände waren mit geschnitzten Geschichten bedeckt: Thor, wie er mit seinem Hammer gegen einen Riesen kämpfte; Odin, der mit seinen Raben über die Welt flog; Freyja, die in einem von Katzen gezogenen Wagen über blühende Wiesen fuhr.
Dort lebte Snorre, ein junger Wikingerprinz mit wilden, roten Haaren, einem Mut, größer als er selbst, und einer Nase, die ständig in Windrichtung zeigte. Seine Eltern, Königin Thyra Schildmaid und König Halvar Weitblick, liebten ihn über alles – auch wenn er oft mehr Fragen stellte, als ein ganzes Dorf beantworten konnte.
Snorre war klug, aber noch klüger war seine Fantasie. Wenn er nachts in seinem Bett lag, stellte er sich vor, auf Fenrirs Rücken über Wolken zu reiten oder mit Loki Verstecken zu spielen. Doch er sehnte sich nicht nur nach Träumen – er wollte echte Abenteuer.
An einem besonders windigen Morgen, als die Möwen ihre Kreise höher als sonst zogen und die Bäume am Waldrand flüsterten, spazierte Snorre neugierig zum alten Runenstein hinter dem Langhaus. Der Stein war uralt, mit Moos bedeckt, und man sagte, er sei schon da gewesen, als Yggdrasil noch ein junger Baum war.
Plötzlich bemerkte Snorre eine Rune, die er noch nie gesehen hatte. Sie war klein, spiralförmig und schimmerte blassblau wie der Himmel im Winter.
„Du gehörst nicht hierher,“ flüsterte er.
In diesem Moment wurde die Luft kühl. Der Wind drehte sich, wurde ganz leise – fast ehrfürchtig – und formte sich vor Snorre zu einer durchsichtigen Gestalt. Die Erscheinung trug eine wehende Kapuze, ihre Augen waren hell wie Morgennebel.
„Ich bin Ljora, Hüterin der Lüfte und Boten der Götter.“
Snorre blinzelte. Er spürte keine Angst – nur Aufregung.
„Warum bist du hier?“
Ljora lächelte. „Weil du gefragt hast. Und weil du bereit bist für ein Spiel, das kein anderes ist.“
Sie erzählte ihm von einem alten Wettstreit unter den Naturgeistern. Einmal im Jahrhundert veranstalten die Winde ein Fest – einen Tanz, bei dem nur jene teilnehmen dürfen, die Herz, Witz und Ausdauer zeigen.
„Drei Schätze der Elemente musst du finden: den singenden Kiesel der Tiefe, die springende Flamme des Feuers und den duftenden Kristall des Lebens.“
Snorre grinste. „Dann pack ich besser Proviant.“
Ljora nickte. „Und nimm dieses mit.“ Sie überreichte ihm ein Amulett aus schimmerndem Eisglas. „Solange du es trägst, kann ich dich hören.“
Am ersten Tag reiste Snorre mit seinem treuen Wildschwein Hilda an die Küste. Der Sand war weich und weiß, das Meer ruhig und silbern. Er watete durchs Wasser, bis er die Meermagd Svala traf – eine wunderschöne Gestalt mit Haaren aus Algen und Haut, die wie Perlen glänzte.
„Der singende Kiesel ruht tief im Tangwald. Doch er zeigt sich nur, wenn du still bist und dein Herz offen.“
Snorre nickte. Er zog seine Stiefel aus, tauchte und schwamm durch grünes, flüsterndes Seegras. Die Welt unter Wasser war still, nur sein Herz pochte. Plötzlich hörte er ein Summen. Da, zwischen zwei Muscheln, lag ein kleiner, runder Stein, der ein leises Lied sang – wie das Summen der Möwen, das Plätschern des Wassers und das Wispern des Windes in einem.
Snorre nahm ihn behutsam auf. „Ich danke dir, kleiner Stein. Du bist mehr als du scheinst.“
Am zweiten Tag wanderte Snorre in die Berge, wo die Zwerge ihre Werkstätten tief im Fels verborgen hielten. Der Weg war steinig, aber Hilda sprang flink über jeden Fels. Als sie die Schmiede von Brokk erreichten, war es bereits Abend. Die Hitze drang aus dem Inneren wie der Atem eines feuerspeienden Drachen.
„Was willst du, Menschenkind?“ fragte Brokk, ein Zwerg mit rußigem Gesicht.
„Ich suche die springende Flamme.“
Brokk schmunzelte. „Dann viel Glück. Sie tanzt nicht für jeden.“
Die Flamme war ein lebendiges, lachendes Ding. Sie sprang von Kohle zu Kohle, zischte, wirbelte, neckte Snorre.
„Wenn du mich fängst, bekommst du meine Glut. Aber nur, wenn du tanzt!“
Snorre legte das Amulett ab, trat auf die warme Erde und begann zu tanzen – ungestüm, wirbelnd, wie der Wind selbst. Die Flamme lachte, sprang zu ihm und ließ sich in ein Glasgefäß fallen.
Brokk staunte. „Du hast sie nicht gezähmt. Du hast mit ihr getanzt. Das ist klüger als jedes Schwert.“
Am dritten Tag ging Snorre allein. Hilda blieb im Dorf, denn der Garten von Freyja lag jenseits der Welt – zwischen Tagtraum und Schlaflied. Ljora hatte ihm den Weg gezeigt: Er musste sich unter einen Apfelbaum legen, die Augen schließen und an einen Duft denken, den er noch nie gerochen hatte.
Er tat es.
Als er sie öffnete, war alles Licht und Blüte. Der Himmel war rosa, die Bäume trugen goldene Blätter, und Freyja saß barfuß in einer Wiese, in der sogar das Gras leise Melodien spielte.
„Willkommen, Snorre Wirbelkind. Suchst du meinen Kristall?“
Er nickte.
„Dann spiele mit Gulltopp. Er bewacht ihn – nicht mit Zähnen, sondern mit Rätseln.“
Das Reh war groß, golden und klug. Es stellte ihm drei Rätsel. Das letzte lautete:
„Ich bin unsichtbar, ich bin überall, ich bin nie allein. Man spürt mich auf der Haut und hört mich in der Stille. Was bin ich?“
Snorre überlegte. Dann flüsterte er: „Der Wind.“
Gulltopp senkte den Kopf, und ein Kristall fiel aus seinem Geweih. Er roch nach Apfelblüten, Sommerregen und Lachen.
Snorre kehrte zurück. Ljora wartete, schwebend über dem Runenstein. Die drei Schätze begannen zu leuchten: Der Kiesel sang, die Flamme flackerte und der Kristall duftete hell.
„Du hast die Elemente geeint – nicht mit Kraft, sondern mit Herz.“
Dann hob sich Snorre in den Himmel. Ljora tanzte mit ihm. Sie wirbelten durch Wolken, flogen mit Möwen, tauchten in Regenbögen, rutschten auf Sonnenstrahlen.
Die Welt wurde weit und klein zugleich. Snorre fühlte sich grenzenlos – nicht als Held, nicht als Krieger, sondern als Teil von allem, was lebte, sang, brannte und duftete.
Als er erwachte, lag er wieder unter dem Runenstein. Hilda grunzte leise neben ihm. Die drei Schätze waren verschwunden, nur das Amulett glänzte noch an seinem Hals, und der Wind spielte sanft mit seinen Haaren.
An diesem Abend, als die Sonne in goldenen Streifen über das Fjordwasser strich, sagte Snorre zu seinem Vater:
„Ich glaube, der Wind hat mir etwas beigebracht, das man nicht lernen kann.“
König Halvar nickte. „Dann bist du wirklich ein Wirbelkind.“
Und während Snorre einschlief, hörte er leise ein Flüstern durch die Nacht:
„Beim nächsten Tanz, kleiner Prinz.“
Ende.
Gute-Nacht-Geschichte, Gute-Nacht-Geschichte kostenlos, Gute-Nacht-Geschichte zum Vorlesen, Kinder-Gute-Nacht-Geschichte