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Schneewittchens geheimer, achter Zwerg - Gute-Nacht-Geschichte

  • Autorenbild: Michael Mücke
    Michael Mücke
  • vor 3 Tagen
  • 4 Min. Lesezeit

Zwerg Flimm sitzt mit seiner Flöte im Baum

Es war einmal, hinter den sieben Bergen, wo die Wälder tief und die Wege kaum begangen waren, eine Hütte, klein und windschief, in der sieben Zwerge lebten.


Jeder von ihnen hatte seine eigene Art: Brumm war stark und kräftig, Schlau konnte jedes Rätsel lösen, Kicher lachte bei jeder Kleinigkeit, Mummel war der Langsamste, aber auch der Geduldigste, Schnupf war oft erkältet, aber nie schlecht gelaunt, Tröpf werkelte den ganzen Tag an kleinen Erfindungen, und Glanz, der Jüngste, sammelte Edelsteine und liebte alles, was glitzerte.


Doch niemand, nicht einmal Schneewittchen, die in jener Hütte Zuflucht gefunden hatte, kannte das Geheimnis, das tief im Herzen des Waldes wohnte: Es gab einen achten Zwerg. Sein Name war Flimm.


Flimm war der Bruder, den man vergaß, nicht aus Bosheit, sondern weil er von Anfang an anders war. Er hatte keine laute Stimme, sein Bart war noch kurz und zart, und er war so leise, dass selbst die Blätter sich wunderten, wenn er unter ihnen hindurchlief, ohne dass sie es bemerkten.


Flimm mochte keine großen Werkzeuge, keine schweren Steine oder lauten Lieder. Stattdessen sammelte er Moos, sprach mit Käfern und schnitzte aus Baumrinde kleine Figuren, die er in seiner Baumhöhle verbarg.

Seine Höhle war versteckt in einem alten, knorrigen Baum, der innen hohl, aber warm war.


Moospolster bedeckten den Boden, über dem Eingang hingen Windspiele aus Nussschalen und Bernstein, die bei jedem Windhauch leise klangen. Auf einem Regal standen kleine Gläser mit selbstgesammelten Dingen: leuchtende Käferflügel, Federn, ein Tropfen Bernstein mit einer eingefangenen Mücke. Es war ein stiller, friedlicher Ort – und nur sein Freund, der Uhu Taro, wusste davon.


„Taro,“ sagte Flimm eines Abends, während draußen der Wind durch die Äste rauschte, „meine Brüder wissen nicht, dass ich existiere. Manchmal frage ich mich, ob ich überhaupt dazugehöre.“


Taro blinzelte weise, drehte langsam seinen Kopf und antwortete mit tiefer Stimme:


„Nicht gesehen zu werden heißt nicht, nicht zu zählen. Die Welt braucht auch die, die im Stillen leuchten.“


In jener Nacht kam etwas Dunkles in den Wald. Ein unheimlicher Nebel stieg aus dem Boden, kroch durch die Wurzeln, hüllte die Bäume ein. In der Morgendämmerung war Schneewittchen verschwunden. Die Zwerge fanden nur ihre Körbe mit den Kräutern am Waldrand, zerdrückt und durchnässt vom Tau. Sie riefen, suchten, liefen in alle Richtungen. Doch Schneewittchen blieb verschwunden.


Niemand bemerkte, dass Flimm das alles aus sicherer Entfernung beobachtete, auf einem Ast sitzend, den Blick traurig auf das verlassene Körbchen gerichtet.

„Ich muss sie finden,“ flüsterte er. „Nicht, weil ich stark bin – sondern weil ich sie gern habe.“


Er packte einen kleinen Beutel: ein wenig Brot, eine getrocknete Brombeere, seine geschnitzte Holzflöte, und ein Stein, den er einst in einer Blume gefunden hatte und der im Dunkeln leicht schimmerte. Dann zog er seinen Moosmantel an, klopfte Taro sanft auf die Flügel und sagte: „Warte auf mich.“


Der Nebel war kalt und roch nach Metall. Flimm bewegte sich langsam, achtete auf jedes Knacken unter seinen Füßen. Er hörte Stimmen, die aus dem Wind zu kommen schienen – nicht laut, aber flüsternd, wie alte Geheimnisse. Bald fand er Spuren: ein Haar von Schneewittchens Zopf an einem Brombeerbusch, ein Abdruck ihrer leichten Schuhe im Schlamm.


Die Spur führte ihn zu einem verborgenen Tal, das auf keiner Karte verzeichnet war. In seiner Mitte stand ein Turm aus schwarzem Stein, alt, schief und von Dornen umwuchert.


Flimm zögerte. Doch dann nahm er seine Flöte, schloss die Augen und spielte ein Lied, das er oft für sich selbst gespielt hatte, wenn er sich klein fühlte. Es war sanft, traurig und voller Hoffnung.


Die Dornen zitterten. Ein Windstoß fegte über das Tal. Der Turm schien zu atmen.

Der Eingang war bewacht – von einer Kröte, so groß wie ein Fass, mit leuchtenden Augen, die Funken schlugen. Sie blickte auf ihn herab.


„Wer bist du, dass du diesen Ort betrittst?“


„Ich bin Flimm, der achte Zwerg,“ sagte er, mit zitternder Stimme, aber aufrechtem Rücken. „Ich bin gekommen, Schneewittchen zu holen.“


Die Kröte blinzelte. Dann hob sie sich träge, gab den Weg frei, und murmelte: „Manche Schlüssel sind klein – aber sie passen in jedes Schloss.“


Im Turm war es kalt. Die Luft roch nach Staub und Träumen. Flimm ging durch enge Gänge, vorbei an Spiegeln, die nicht sein Spiegelbild zeigten, sondern seine Ängste: Seine Brüder, die ihn nicht sahen. Schneewittchen, die fortging, ohne sich zu verabschieden. Taro, versteinert auf einem Ast.


Doch er ging weiter, und schließlich kam er in einen runden Raum. In der Mitte lag Schneewittchen – nicht schlafend, aber wie erstarrt, als wäre sie eingefroren in einem Traum. Über ihr schwebte ein Spiegel, aus dessen Mitte eine Stimme sprach, leise und klar:


„Nur der, der sich selbst erkennt, kann lösen, was gebunden ist.“

Flimm trat vor den Spiegel. Er sah sich – mit Dreck im Gesicht, zerzaust, müde. Aber auch mit festen Augen und der Flöte in der Hand. Und da verstand er:


Er war nicht nur der achte Zwerg.


Er war der Zwerg, der kam, obwohl er Angst hatte. Der Zwerg, der das leise Lied spielte, das Mauern bewegte. Der Zwerg, der Schneewittchen liebte – nicht mit großen Worten, sondern mit Taten im Schatten.


„Ich bin ich. Klein, aber ganz. Und das reicht.“


Der Spiegel zersprang in hundert Lichter. Schneewittchen holte tief Luft, als würde sie aus einem langen Schlaf erwachen. Ihre Augen suchten und fanden Flimm.


„Du?“, flüsterte sie.


„Ich.“, antwortete er. „Der, den du nie kanntest – aber der dich trotzdem gefunden hat.“


Sie nahm seine Hand, und gemeinsam gingen sie zurück – durch die Schatten, durch den Nebel, zurück ins Licht.


Als sie zur Hütte kamen, war es still. Die sieben Zwerge saßen am Tisch, niedergeschlagen. Doch als sie Flimm sahen, wie er Schneewittchen führte, sprang Brumm auf und rief: „Wer ist das?“


„Das ist Flimm,“ sagte Schneewittchen lächelnd.


„Der Mutigste von euch allen.“


Von diesem Tag an gab es keinen Zweifel mehr: Es gab acht Zwerge. Und der achte hatte ein Zimmer ganz aus Holzmoos und Windspielen bekommen, mitten im Haus.


Er spielte abends auf seiner Flöte, wenn der Wald schlief, und jedes Mal, wenn ein Kind dem Wind lauschte, meinte es, eine Melodie zu hören, die sagte:

„Auch du bist genug, genau so, wie du bist.“


Und so schlafen nun alle ruhig – Flimm in seinem neuen Bett, Taro auf einem Ast am Fenster, Schneewittchen bei ihrem Buch, und der ganze Wald in einem Lied aus Mut und Stille.


Gute Nacht.

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