Der Riese und das kleine Dorf - eine fantastische Geschichte zum Einschlafen
- Michael Mücke
- 22. Juli
- 5 Min. Lesezeit

Es war einmal, weit hinter den sieben Hängen und jenseits des Flusses Flinkerlauf, ein kleines, verstecktes Dorf namens Nüggelsbach. Das Dorf war winzig – so winzig, dass es nicht einmal auf Landkarten zu finden war.
Die Dächer der Häuser waren aus rotem Lehm und mit dicken, goldgelben Strohbündeln gedeckt. Überall hingen Windspiele aus Holz und Muscheln, die bei Wind ein fröhliches Klingen von sich gaben.
In Nüggelsbach lebten nur zwanzig Menschen, drei Ziegen, fünf Hühner, ein kauziger Hahn und der alte Kater Mohrle, der sich für sehr wichtig hielt.
Die Leute in Nüggelsbach liebten ihre Ruhe. Sie backten Brot, sammelten Beeren, pflegten ihre Gärten und erzählten sich bei Tee und Apfelkuchen alte Geschichten – die meisten davon handelten von einem Wesen, das sie nie selbst gesehen hatten, das aber jeden Donnerstag auftauchte:
Der Riese vom Düsterhügel.
Die Erwachsenen flüsterten seinen Namen nur, wenn der Wind stark war und der Mond sich hinter Wolken versteckte. Angeblich kam der Riese nur nachts, stapfte mit seinen riesigen Füßen durch das Tal, und wenn man nicht aufpasste, soll er Hühner klauen oder Zäune umwerfen. Natürlich hatte ihn niemand je wirklich gesehen – aber alle wussten, dass er existierte. Denn jeden Donnerstag bebte der Boden ganz leicht.
Nicht viel, gerade so, dass es in den Tassen klirrte und die Hühner aufgeregt gackerten.
„Das ist er!“ flüsterten die Menschen dann. „Der Riese holt sich sein Abendbrot!“
Sie verbarrikadierten ihre Fensterläden, zogen die Vorhänge zu, und setzten sich eng zusammen, als könne das Licht einer Laterne sie vor einem Wesen so groß wie ein Haus schützen.
Doch niemand ahnte, dass der Riese – Klumpatsch hieß er eigentlich – genau das Gegenteil eines Monsters war. Ja, Klumpatsch war gewaltig. Er war fast so hoch wie der Düsterhügel selbst, hatte riesige Füße, an denen sich Gras wie Schuhbänder verhedderte, und seine Stimme war so tief, dass sie Vögel aufschreckte.
Aber Klumpatsch war auch sanft, freundlich – und vor allem sehr, sehr schüchtern.
Er lebte in einer riesigen Höhle voller leuchtender Kristalle, Pilzlampen und selbstgeschnitzter Holzfiguren, die alle fröhlich lächelten.
Er hatte eine Hängematte aus Spinnenseide, eine Tasse so groß wie ein Brunnen und ein Bücherregal aus Baumstämmen. Am liebsten las er alte Geschichten über Menschen, Feste und Freundschaft. Und jeden Donnerstag – seinem Lieblingstag – schlich er sich so leise er konnte an das Dorf heran, nicht um etwas zu stehlen, sondern nur, um ein wenig Musik, Lachen oder Stimmen zu hören.
„Wie das wohl ist, mit anderen zu reden...“ seufzte Klumpatsch oft. „Wäre ich doch kleiner, würden sie vielleicht mit mir spielen.“
Doch niemand traute sich hinaus. Niemand, außer einem einzigen Jungen: Tillo.
Tillo war neun Jahre alt, hatte ein wildes, rotgelocktes Haar und Sommersprossen wie winzige Sterne auf der Nase. Er stellte viele Fragen – so viele, dass die Erwachsenen oft mit einem „Das ist eben so“ antworteten.
Doch Tillo wollte alles wissen. Er wollte wissen, warum der Himmel blau war, warum Mohrle immer zuerst auf das Kissen durfte, und vor allem: Wer war dieser geheimnisvolle Riese?
„Vielleicht ist er gar nicht böse,“ murmelte Tillo, während er unter seiner Decke lag und dem Donnern in der Ferne lauschte.
„Vielleicht will er nur einen Freund.“
Also fasste Tillo einen Plan. In der darauffolgenden Donnerstagnacht schlich er sich mit einer Taschenlampe, einem Apfel, einem Notizbuch und einer Decke aus dem Haus. Der Nebel hing schwer über den Wiesen, der Himmel war mondlos und schwarz. Es roch nach feuchter Erde und Moos.
Tillo hatte keine Angst. Er war zu neugierig.
Der Weg zum Düsterhügel war geheimnisvoll. Zweige knackten unter seinen Füßen, Käfer schwirrten durch die Luft, und irgendwo rief eine Eule. Der Hügel selbst war von Nebel umwoben, und Tillo musste sich zwischen knorrigen Wurzeln hindurch zwängen. Plötzlich bebte der Boden. Dann wieder. Und noch einmal.
Da stand er: Klumpatsch.
Der Riese war gewaltig. Seine Haut war grau wie Fels, aber von grünem Moos überzogen. An seinen Fingern hingen Blätter wie Handschmuck, und seine Augen leuchteten grün wie Glühwürmchen in der Nacht. Er starrte Tillo an, verwundert, ängstlich – und dann... sprach er.
„Was... machst du hier?“ grollte er, aber sanft.
Tillo zitterte ein bisschen, aber seine Stimme war fest: „Ich wollte dich kennenlernen. Ich glaube nicht, dass du böse bist.“
Klumpatsch setzte sich langsam. Es krachte, als Bäume zur Seite wichen, aber er bewegte sich vorsichtig wie eine Katze auf Zehenspitzen.
„Du hast keine Angst vor mir?“
„Nur ein kleines bisschen,“ gab Tillo ehrlich zu. „Aber das geht vorbei, glaub ich.“
Der Riese lachte – ein warmes, wogendes Lachen, das sich wie ein Lied über den Hügel legte.
Die beiden redeten die ganze Nacht. Tillo erzählte vom Dorf, von Frau Apfelkuhn, die immer Kuchen backte, und vom Kater Mohrle, der sich für einen König hielt. Klumpatsch erzählte von seinen Kristallen, von den Geschichten in seinen Büchern, und dass er einmal versucht hatte, sich winzig zu machen, indem er sich in einen Regenwurm einwickelte – aber es hatte nicht geklappt.
Am Morgen schlief Tillo in der Decke eingerollt ein, während Klumpatsch vorsichtig über ihn wachte.
Von da an trafen sie sich jede Woche. Tillo brachte Bücher, Laternen, neue Fragen. Klumpatsch zeigte ihm, wie man mit Eichhörnchen flüstert, wo die Steine singen, und wie man aus Pilzen Lampen bastelt. Sie lachten, bastelten, lasen, und Tillo wusste: Dieser Riese war das Beste, was ihm je passiert war.
Eines Abends fasste Tillo Mut.
„Du musst mit ins Dorf kommen. Die Leute sollen wissen, wie du wirklich bist.“
Klumpatsch wurde still. „Aber sie haben Angst vor mir.“
„Dann zeigen wir ihnen, dass sie keine haben müssen.“
Und so geschah es. An einem besonders hellen Donnerstag, als das ganze Dorf sich wieder in den Häusern verkroch, hörten sie plötzlich Musik. Eine tiefe Flöte, aus Astholz geschnitzt, spielte eine sanfte Melodie. Dazu sang ein Junge mit klarer Stimme ein Lied über einen freundlichen Riesen, der den Wald hütete.
Die Dorfbewohner traten vorsichtig hinaus – und da stand er. Klumpatsch. Er trug einen Blumenkranz auf dem Kopf und winkte mit einem Zweig. Er machte einen Riesen-Knicks, und dann – tanzte er. Es war tollpatschig, es war lustig, und es war wunderschön.
Tillo lief voraus. „Das ist Klumpatsch! Er ist mein Freund! Und er ist ganz wunderbar!“
Die Dorfbewohner schwiegen. Dann klatschte jemand. Dann lachte jemand. Dann kam Frau Apfelkuhn mit einem Kuchen und sagte: „Nimm ruhig das ganze Blech.“
Von diesem Tag an war Klumpatsch nicht mehr allein. Donnerstags war Dorffest. Der Riese spielte Flöte, die Menschen tanzten, und niemand versteckte sich mehr.
Denn manchmal ist das, wovor wir uns fürchten, einfach nur jemand, der genauso viel Freundschaft braucht wie wir.
Und wenn du ganz still bist in der Nacht – und wenn es vielleicht Donnerstag ist – dann hörst du in der Ferne vielleicht das Kichern eines Riesen.
„Freundschaft macht groß“, sagte Tillo später, „aber nicht im Körper, sondern im Herzen.“
Und das ist das Schönste, was ein kleiner Junge und ein großer Riese jemals gelernt haben.