Opa baut ein Baumhaus - Gute-Nacht-Geschichte
- Michael Mücke
- 26. Mai
- 4 Min. Lesezeit

Es war einmal ein kleiner Junge namens Per, der jeden Nachmittag bei seinem Opa verbrachte. Opa lebte in einem alten Haus auf dem Land, das zwischen wilden Blumenwiesen, knorrigen Apfelbäumen und einem plätschernden Bach lag. Der Garten war riesig, fast schon wie ein kleines Abenteuerreich, aber das Schönste an allem war die große Eiche am hinteren Ende des Gartens.
Diese Eiche war so alt, dass niemand mehr genau wusste, wann sie gepflanzt worden war. Ihr Stamm war dick und rau, und ihre Äste streckten sich weit in den Himmel, als wollten sie den Wolken zuwinken. Per liebte diesen Baum.
Er kletterte oft auf die untersten Äste, beobachtete Eichhörnchen und träumte davon, hoch oben in der Krone ein Baumhaus zu haben, ein echtes, richtiges Baumhaus, mit allem drum und dran.
Eines sonnigen Morgens, als die Vögel sangen und die Luft nach frisch gemähtem Gras roch, entdeckte Per seinen Opa unter der Eiche. Der hatte einen Zollstock in der Hand, ein kariertes Notizbuch unter dem Arm und runzelte die Stirn, als würde er eine komplizierte Rechenaufgabe lösen.
„Was machst du da, Opa?“, fragte Per neugierig.
Opa blickte hoch und lächelte geheimnisvoll. „Ich überlege, wie viele Bretter wir wohl brauchen.“
„Für was denn?“, hakte Per nach und konnte kaum an sich halten.
„Na für ein Baumhaus, was denkst du denn!“, rief Opa und klopfte mit dem Zollstock gegen den Baum. „Und zwar nicht irgendein Baumhaus, mein lieber Per. Nein, wir bauen ein richtiges, mit Aussicht und Versteck und vielleicht sogar einer Klappe im Boden.“
Per riss die Augen auf. „Wirklich? Ein echtes Baumhaus? Für mich?“
„Für uns!“, lachte Opa, „Ich will ja schließlich auch mal reinklettern und ein Nickerchen machen.“
Schon am Nachmittag begannen die beiden mit den Vorbereitungen. Sie suchten im alten Schuppen nach Brettern, Nägeln, Schrauben, Seilen und allem, was man sonst so brauchen konnte. Opa zog sogar ein Paar alte Arbeitshandschuhe aus der Werkzeugkiste und drückte sie Per in die Hand.
„Damit du dir nicht die Finger zerkratzt, mein kleiner Baumeister.“
Der erste Schritt war die Plattform. Opa erklärte Per, wie man die tragenden Balken sicher befestigt, und während Per die Schrauben sortierte, balancierte Opa mit erstaunlicher Geschicklichkeit auf einem Ast.
„Wenn ich runterfalle, holst du bitte Oma, aber sag ihr nicht, dass ich vorher gesagt habe, ich sei noch fit wie ein Turnschuh.“
Per lachte. „Keine Sorge, Opa. Ich sag einfach, du wärst vom Wind verweht worden.“
„Frechdachs!“, brummte Opa, zwinkerte aber verschmitzt.
Die Arbeiten zogen sich über mehrere Tage hin. Zwischendurch musste Opa das Dach vom Schuppen flicken, weil ein Sturm es durchlöchert hatte. Ein anderes Mal trat er auf einen rostigen Nagel, aber zum Glück war nur sein Schuh durchlöchert. Und einmal ließ Per versehentlich einen Pinsel in den Farbeimer fallen, der dann so sehr spritzte, dass Opa einen roten Fleck auf der Stirn trug – fast wie ein Indianerhäuptling.
„Sieht aus, als hätte ich mit einer Tomate gekämpft und verloren.“, meinte er trocken.
Als die Plattform endlich stabil war, kam der spannendste Teil: die Hütte selbst. Sie bauten Wände aus alten Brettern, schnitten Fenster hinein, befestigten eine kleine Klapptür und hängten sogar einen kleinen Vorhang auf, den Oma aus einem alten Geschirrtuch genäht hatte.
Innen legten sie Teppichreste aus, stellten ein kleines Regal auf und bauten einen winzigen Tisch aus einer umgedrehten Kiste. Aus einem alten Fernrohr, das Opa noch aus seiner Seefahrtszeit hatte, bastelten sie ein Ausguck, den man aus dem Fenster halten konnte.
„Jetzt fehlt nur noch das Namensschild.“, sagte Per stolz, als sie endlich fertig waren.
„Wie wollen wir es nennen?“, fragte Opa und kratzte sich am Bart.
Per überlegte kurz. „Wie wär's mit Baumhaus Himmelsblick?“
„Perfekt!“, rief Opa begeistert, „Denn höher als das hier kann man in einem Garten kaum hinaus.“
Am Abend saßen sie gemeinsam im Baumhaus, mit zwei Tassen heißem Kakao, einer Decke über den Knien und einer Taschenlampe auf dem kleinen Tisch. Die Sonne ging langsam unter, tauchte den Garten in goldenes Licht, und die ersten Glühwürmchen flimmerten durch die Luft.
„Das ist das Schönste, was wir je gebaut haben.“, sagte Per leise.
„Stimmt. Aber das Schönste daran ist, dass wir’s zusammen gemacht haben.“, antwortete Opa und klopfte Per sanft auf die Schulter.
Plötzlich kroch ein kleines Kitz durch das hohe Gras unter dem Baum vorbei. Beide hielten den Atem an.
„Glaubst du, das kommt öfter?“, flüsterte Per.
„Na klar. Die wissen doch, dass hier jetzt zwei neue Waldwächter wohnen.“
Als es dunkel wurde, wollte Per gar nicht mehr runter.
„Darf ich hier schlafen? Bitte, bitte!“, bettelte er.
„Nur wenn ich bei dir bleibe. Ich schnarche zwar ein bisschen, aber du bist ja auch kein leiser Träumer.“
Also holten sie Schlafsäcke, eine Thermoskanne mit Tee und ein altes Radio, auf dem leise Musik spielte. Der Wind rauschte in den Blättern, irgendwo knarrte ein Ast, und Per schloss langsam die Augen.
„Gute Nacht, Opa.“
„Gute Nacht, mein kleiner Baumeister.“
Und so schliefen sie ein, hoch oben in ihrem Baumhaus, beschützt von der alten Eiche, mitten im Flüstern der Blätter und den Sternen über ihnen, die wie kleine Lichter über ihr gemeinsames Abenteuer wachten.