Martin und der Dinosaurier - Gute-Nacht-Geschichte
- Michael Mücke
- 24. Mai
- 3 Min. Lesezeit

Martin war ein ganz gewöhnlicher Junge – dachte er zumindest. Er liebte es, Fragen zu stellen, in seinem Dinosaurierbuch zu blättern und sich vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn riesige, uralte Wesen wieder durch unsere Welt spazierten.
Er konnte stundenlang mit seinen Plastikdinosauriern spielen, die Namen „Stegosaurus“, „Ankylosaurus“ und „Pachycephalosaurus“ auswendig aufsagen und mit geschlossenen Augen zeichnen, wie ein Tyrannosaurus durch einen Urzeitdschungel stapfte. Doch eines Abends sollte sich alles verändern.
Es war eine Nacht wie jede andere – oder zumindest dachte Martin das. Der Himmel war klar, und der Mond leuchtete hell wie eine silberne Laterne. Martins Mama deckte ihn zu, gab ihm einen Kuss auf die Stirn und flüsterte: „Träum schön, mein Schatz.“
Martin schloss die Augen. Kaum war er eingeschlafen, wurde er von einem seltsamen Geräusch geweckt, einem tiefen, brummenden Summen, das wie ein Lied klang, aber keines war. Neugierig öffnete er die Augen und sah einen schwachen, grünlichen Lichtschein, der durch sein Fenster fiel. Er stand langsam auf, schlich sich zur Fensterscheibe – und traute seinen Augen nicht.
Draußen auf der Wiese vor dem Haus stand ein Dinosaurier. Kein gewöhnlicher Dinosaurier, sondern ein leuchtender, schimmernder, fast durchsichtiger Dinosaurier. Er hatte einen langen Hals, große freundliche Augen und schillerte in allen Farben des Regenbogens. „Martin,“ sagte der Dinosaurier mit einer Stimme, die wie ein warmer Wind klang, „du wurdest auserwählt.“
„Auserwählt? Wofür denn?“ fragte Martin und rieb sich die Augen. „Um Hüter des verlorenen Wissens zu werden. Komm mit mir, ich zeige dir eine Welt, die du dir nicht einmal vorstellen kannst.“
Ohne Angst und mit einem Herz voller Staunen kletterte Martin auf den Rücken des Dinosauriers. „Ich heiße Theo,“ sagte das Wesen. „Und wir reisen jetzt durch die Zeit, aber nicht auf gewöhnliche Weise.“ Theo stampfte mit einem Fuß auf den Boden, und plötzlich öffnete sich ein riesiges Portal – ein Wirbel aus Licht, Geräuschen und Gerüchen, wie ein lebendig gewordenes Kaleidoskop.
Sie flogen durch das Portal, als ob sie auf einem Regenbogen ritten. Die Zeit verging um sie herum in Spiralen: Martin sah Vulkane ausbrechen, Kontinente wandern, riesige Libellen durch Wälder flattern und Ozeane entstehen, die leuchteten wie flüssiges Türkis.
Sie landeten in einem Tal, das so alt war, dass es von keinem Menschen je betreten worden war. Pflanzen, die riesig wie Häuser waren, wuchsen neben glitzernden Kristallen, die aus dem Boden ragten wie Zähne. Am Himmel zogen schwebende Inseln vorbei, auf denen Flugsaurier ihre Nester gebaut hatten.
„Willkommen im Tal der Ewigen Dämmerung,“ sagte Theo, „hier lebt, was niemals vergessen wird.“
Sie wurden von einer Gruppe Dinosaurier empfangen, die alle sprechen konnten. Ein Diplodocus verbeugte sich tief und sprach: „Martin, Hüter des Wissens, wir haben auf dich gewartet.“
Martin staunte. „Aber ich bin doch nur ein Junge!“ Der Diplodocus lächelte. „Und gerade deshalb. Kinder vergessen nicht zu träumen. Erwachsene vergessen es zu oft.“
Die Dinosaurier zeigten Martin ihre Bibliothek – aber nicht irgendeine Bibliothek, sondern eine lebendige. Bücher wuchsen dort wie Blumen, und wenn man ein Blatt öffnete, erschien ein Hologramm des Inhalts, schwebend in der Luft.
Ein Pteranodon erklärte: „Hier ist alles Wissen der alten Welt gespeichert – nicht nur über uns Dinosaurier, sondern über alle verlorenen Dinge: ausgestorbene Tiere, vergessene Sprachen, Melodien, die nie aufgeschrieben wurden.“
In einem Tempel aus Fossilien zeigte Theo ihm ein riesiges Wandgemälde, das sich bewegte, wenn man es berührte. „Siehst du, Martin,“ sagte Theo, „jeder Stein, jedes Blatt erzählt eine Geschichte. Deine Aufgabe ist es, diese Geschichten zu hören, zu bewahren und weiterzugeben.“
Martin durfte mit einem Parasaurolophus musizieren, dessen Knochenkamm wie eine Trompete klang. Er flog auf dem Rücken eines Quetzalcoatlus durch eine Welt voller schwebender Wasserfälle und lauschte den geheimen Liedern der Urzeit. Er entdeckte ein Labor unter einem See, wo Dinosaurier versuchten, neue Arten von Pflanzen zu züchten, um den Hunger der Zukunft zu stillen.
Nach einer Reise durch ein unterirdisches Kristallmeer, in dem leuchtende Seeschlangen lebten, kehrten Theo und Martin zurück zum Rand des Portals. „Die Zeit in deiner Welt vergeht anders,“ erklärte Theo, „du warst hier viele Stunden, doch bei dir ist kaum eine Minute vergangen.“
Martin kletterte hinunter, drehte sich noch einmal um und sagte: „Ich werde alles aufschreiben. Ich werde die Geschichten erzählen.“ Theo lächelte, und seine Augen glänzten im Licht des Portals. „Und ich werde auf dich warten, kleiner Hüter.“
Wieder im Bett lag Martin still und hörte das Brummen in der Ferne verklingen. Seine Decke fühlte sich weicher an als je zuvor, sein Kopf war voller neuer Bilder, und sein Herz war so warm, dass er meinte, es leuchte von innen.
Bevor er einschlief, flüsterte er: „Ich komme wieder, Theo. Versprochen.“
Und draußen in der Ferne, dort wo der Himmel die Erde küsst, antwortete eine tiefe, liebevolle Stimme im Wind: „Die Geschichten werden auf dich warten, Martin.“
Und Martin träumte – größer als je zuvor.