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Mama, wo schläft die Liebe nachts? - Gute-Nacht-Geschichte

  • Autorenbild: Michael Mücke
    Michael Mücke
  • 19. Mai
  • 4 Min. Lesezeit

Merle liegt in ihrem Bett und schläft

Mama, wo schläft die Liebe nachts?“, fragte die kleine Merle eines Abends, als draußen der Wind durch die Bäume rauschte und sich Regentropfen gegen das Fenster klopften wie winzige Reisende, die um Einlass baten.


Ihre Mutter saß auf der Bettkante, eine dampfende Tasse Kamillentee in der einen Hand, die andere ruhte auf Merles Decke. Das Zimmer war gedämpft beleuchtet, ein weiches Licht flackerte aus einer alten Nachtlampe mit einem Schirm aus Pergament, auf dem tanzende Sterne gemalt waren.


Mama lächelte nachdenklich. Sie blies leise über ihren Tee und sah dann Merle an, mit diesem Blick, der warm war wie ein Ofen in einer Winternacht.


Das ist eine große Frage, mein Schatz. Und eine sehr schöne. Vielleicht die schönste überhaupt.


Aber du weißt es, oder?“, fragte Merle hoffnungsvoll und rutschte näher an ihre Mama heran. „Du weißt doch immer alles.


Mama lachte leise. „Ich weiß nicht alles, aber ich hab’s gesehen. Und ich kann dir erzählen, wo ich die Liebe schlafen sah.


Merle riss die Augen auf. Ihre kleine Hand tastete nach Mamas Finger, und ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern: „Bitte. Erzähl es mir. Ganz langsam. Damit ich’s spüren kann.


Mama nickte. Sie stellte die Tasse ab, zog die Decke bis unter Merles Kinn und begann zu erzählen, nicht hastig, nicht schnell, sondern mit der Ruhe eines Menschen, der von etwas Kostbarem spricht:


„Es war einmal ein Mädchen, das hieß Nea. Sie lebte in einem Dorf, das von weiten Wiesen und alten Bäumen umgeben war. Ihre Haare waren wie Honig im Sonnenlicht, und in ihren Augen spiegelte sich oft der Himmel, weil sie so viel nach oben schaute.


Nea hatte eine besondere Gabe – sie konnte fühlen, wenn jemand ganz viel Liebe in sich trug. Sie sagte, es kribbele dann hinter ihren Rippen, wie wenn ein kleiner Schmetterling mit goldenen Flügeln dort wohne.“


So einen Schmetterling will ich auch haben.“, murmelte Merle.


„Vielleicht hast du ihn längst“, sagte Mama und fuhr fort: „Eines Tages, als der Abend kam und sich der Himmel in samtene Farben kleidete, fragte Nea ihre Mutter: ‚Mama, wo schläft die Liebe nachts?‘ 


Die Mutter sah sie lange an und sagte nur: ‚Geh und finde es heraus. Aber geh leise – die Liebe erschrickt manchmal, wenn man zu laut fragt.‘


Also zog Nea los. Sie schlich durch das dämmernde Dorf, an Häusern vorbei, in denen schon Lichter flackerten und Stimmen Geschichten erzählten. Sie sah Großeltern auf der Bank, die Händchen hielten. Sie sah einen Vater, der seiner Tochter ein Kissen zurecht rückte. Und immer, wenn sie solche Dinge sah, spürte sie das Kribbeln ein bisschen mehr.


Aber sie wollte wissen, wo die Liebe schlief – nicht nur, wo sie wohnte.

„Sie ging den Pfad entlang, der zum alten Apfelbaum führte, an dem im Frühling die Bienen summten. Dort saß ein Fuchs, ganz still.


Er blinzelte Nea an und sagte: ‚Ich habe die Liebe schlafen sehen. Sie lag auf dem Bauch eines Kindes, das träumte, dass es fliegen kann.‘ Dann verschwand er im Dunkel wie ein Gedanke, der sich versteckt.“


Nea lächelte, aber sie wusste: Das war noch nicht alles.


Sie wanderte weiter und kam an einen Teich, der wie flüssiger Spiegel war. Dort schwamm ein Schwan, weiß wie Wolken. Als er sie sah, sagte er: ‚Die Liebe schläft in der Tiefe der Dinge, die man nicht kaufen kann. Im ersten Schneeflockenblick. Im letzten Gute-Nacht-Wort.‘


Und doch… sie wollte es mit eigenen Augen sehen.


„Also ging Nea weiter, bis sie zu einem alten Baum kam, der so groß war, dass man meinte, er könne den Himmel stützen. Im Geäst saß eine Eule, uralt und klug, mit Augen wie Monde. Sie sagte: ‚Die Liebe schläft niemals ganz. Aber wenn sie ruht, dann in einem Lied, das jemand im Herzen trägt – selbst, wenn er es nicht mehr singt.‘


Ich hab auch ein Lied im Herzen. Ich hab’s manchmal gehört.“, murmelte Merle schläfrig.


Mama beugte sich vor und strich ihr übers Haar. „Ich weiß. Ich hab’s auch gehört, mein Schatz.


Nea setzte sich schließlich unter den Baum und legte sich ins Moos. Sie hörte den Wind durch die Blätter gleiten und roch den Duft von Erde und Zeit. Und da – ganz leise, wie ein Atemzug, der nicht gestört werden will – spürte sie etwas. Wärme, wie ein Versprechen. Geborgenheit, wie ein Wort, das man nicht sagen muss.


Und Liebe, die sich nicht zeigt wie ein Feuerwerk, sondern wie eine Hand, die man hält, ohne zu fragen.


„Sie sah keinen Engel. Keine Fee. Kein Herz mit Flügeln. Sie sah nur: Sterne, die leuchteten, obwohl sie so weit weg waren. Und in diesem Licht verstand sie: Die Liebe schläft nicht an einem Ort. Sie schläft in Momenten. In Gesten. In Erinnerungen. In Menschen, die andere Menschen in sich tragen.


Merles Augen waren nun nur noch schmale Schlitze. Ihre Finger hatten sich nicht mehr von Mamas gelöst.


Und schläft die Liebe auch hier bei uns? Jetzt?“, fragte sie leise, ihre Stimme kaum noch hörbar.


Mama sah sie lange an, dann flüsterte sie: „Sie schläft in deinem Lächeln, in deinem letzten Gedanken, in meinem Arm um dich. Sie ruht in deinem Zimmer, in jeder Geschichte, die ich dir erzähle, in jeder Minute, in der du geliebt wirst. Und das bist du – jede einzelne Sekunde.“


Dann beugte sich Mama vor, küsste Merles Stirn und sagte: „Wenn du jetzt die Augen schließt, wirst du sie fühlen. Nicht wie ein Traum, sondern wie ein Zuhause, das immer da ist.“


Merle atmete tief ein, dann aus. Ganz ruhig, ganz friedlich.


Draußen hatte der Regen aufgehört. Die Wolken schoben sich zur Seite, und der Himmel zeigte sein Gesicht. Ein einzelner Stern blinkte besonders hell – so, als würde er zuhören. Und vielleicht, ganz vielleicht, schlief irgendwo in dieser Nacht die Liebe – nicht wie ein Mensch, sondern wie ein Licht, das nie ganz erlischt.


Und in einem kleinen Zimmer, in einem kleinen Haus, schlief ein Kind mit einem Schmetterling aus Goldflügeln hinter den Rippen und einem Lied im Herzen, das leise weitersang.

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