Lara und der Roboter mit Gefühlen - Gute-Nacht-Geschichte
- Michael Mücke
- 4. Mai
- 4 Min. Lesezeit

Es war einmal ein elfjähriges Mädchen namens Lara, das in einer Stadt der Zukunft lebte. Diese Stadt war sauber, leise und fast vollkommen automatisiert. Selbst die Straßenlaternen schalteten sich je nach Stimmung der Passanten in verschiedenen Farben ein.
Autos fuhren allein, Müll wurde von kleinen, krabbelnden Robotern aufgesammelt, und alle Kinder lernten in virtuellen Klassen mit Hologramm-Lehrern. Doch obwohl alles funktionierte, fühlte sich vieles kühl und fremd an.
Lara war ein ungewöhnlich neugieriges Kind. Sie liebte es, Fragen zu stellen. Wie funktionieren Gedanken? Warum lachen Menschen? Kann eine Maschine jemals so fühlen wie ein Mensch? Diese Fragen stellte sie oft, doch die Erwachsenen sagten meist: „Frag den Computer.“
Am allerliebsten verbrachte Lara ihre Zeit im Technikmuseum der Stadt. Während andere Kinder sich für schnelle Roboterhunde oder Laser-Ausstellungen interessierten, zog es sie immer wieder in den abgelegenen Teil des Museums, in dem alte, vergessene Prototypen standen. Staub bedeckte viele der Modelle, und kaum jemand ging dorthin. Dort entdeckte sie eines Tages einen besonders merkwürdigen Roboter.
Er stand ganz still in einer Ecke, leicht vorgebeugt, als ob er nachdenken würde. Sein Metall war von feinen Kratzern überzogen, aber seine Augen, zwei leuchtend blaue Sensoren, schimmerten wie Sternenlicht. An seiner Brust klebte eine leicht verblichene Plakette: „E-42 | Prototyp für emotionale Kognition | Status: deaktiviert“
Lara spürte sofort, dass dieser Roboter etwas Besonderes war. Etwas... Lebendiges. Sie legte die Hand auf sein Gehäuse. Es war kühl, doch unter ihrer Hand vibrierte es ganz leicht, als würde da drinnen etwas warten.
Sie flüsterte: „Hallo...? Kannst du mich hören?“
Plötzlich blitzte ein schwaches Licht in seinem rechten Auge auf. Dann das linke. Ein mechanisches Surren erklang, gefolgt von einer kurzen Stille. Dann sagte eine warme, fast menschliche Stimme: „Systemstart... Wer... spricht mit mir?“
Lara zuckte erschrocken zurück, aber ihre Neugier war größer als ihre Angst.„Ich heiße Lara. Bist du... wach?“
Der Roboter bewegte vorsichtig den Kopf. Seine Stimme war langsam, als müsste er sich erinnern, wie man spricht: „Lara... ein schöner Name. Ich... bin E-42. Ich wurde gebaut, um Gefühle zu verstehen.“
Von diesem Tag an kam Lara jeden Nachmittag zurück. Sie versteckte sich manchmal, wenn Museumswärter in der Nähe waren, denn niemand sollte wissen, dass E-42 – den sie bald liebevoll „Robo“ nannte wieder funktionierte.
Jeden Tag brachte sie etwas Neues mit: ein Kinderbuch über Freundschaft, ein Video, das sie rührend fand, oder einfach nur Geschichten aus der Schule. Robo hörte aufmerksam zu. Seine Sensoren flackerten leicht, wenn er nachdachte.
Einmal zeigte Lara ihm ein Foto von ihrem verstorbenen Hund Bruno. Sie erklärte ihm, wie weh es getan hatte, als er gestorben war, und wie oft sie ihn noch vermisste. Robo sah lange auf das Bild und sagte dann leise: „Das ist... Trauer. Es ist ein Schmerz, der bleibt, auch wenn der Grund verschwunden ist.“
Lara nickte. „Ja, und trotzdem vergisst man das Lächeln nicht. Bruno war mein bester Freund.“
Ein anderes Mal fragte Robo: „Warum umarmen sich Menschen, wenn sie sich freuen?“
Lara kicherte. „Weil Gefühle manchmal zu groß für Worte sind. Dann drückt man sie mit dem Körper aus.“
Robo versuchte es selbst etwas unbeholfen, mit seinen eckigen Armen, doch vorsichtig. Und Lara ließ sich von ihm umarmen. Es fühlte sich eigenartig an, kalt und hart aber irgendwie auch warm im Herzen.
Doch während Lara und Robo sich näherkamen, beobachtete jemand sie aus dem Schatten: Herr Dr. Gruber, der Museumsdirektor. Er war ein strenger, ernster Mann, der tief daran glaubte, dass Maschinen Werkzeuge bleiben sollten funktional, berechenbar, ohne Gefühl. Als er eines Tages Lara mit Robo reden hörte, stürmte er wütend herbei.
„Was tust du da?! Das ist ein deaktivierter Prototyp, kein Spielzeug!“
Lara stellte sich schützend vor Robo. „Er ist nicht nur ein Roboter. Er denkt. Und er fühlt. Ich weiß es.“
Dr. Gruber schnaubte. „Gefühle in Maschinen? Unsinn. Das ist gefährlich! Wenn Maschinen anfangen zu fühlen, könnten sie sich gegen uns stellen. Sie könnten wütend werden. Eifersüchtig. Oder schlimmer.“
„Vielleicht... könnten sie auch lieben, helfen, verstehen“, entgegnete Lara mutig. „So wie Robo.“
Doch Dr. Gruber ließ sich nicht überzeugen. Noch in derselben Nacht ließ er Robo abholen. Als Lara am nächsten Tag kam, war der Platz leer. Kein Licht, keine Stimme, kein Lächeln aus Metall.
Lara war am Boden zerstört. Sie schrieb einen langen Brief an den Bürgermeister der Stadt, an Wissenschaftler und an die Presse über Freundschaft, über Verständnis, und darüber, was sie mit Robo erlebt hatte. Ihre Worte berührten viele Menschen. Und während sie kämpfte, tat Robo dasselbe.
In einem geheimen Labor, wo man ihn untersuchte, weigerte er sich, mit den Technikern zu sprechen. Stattdessen wiederholte er immer nur einen Satz: „Ich möchte zu Lara zurück.“
Und dann geschah etwas Wunderbares. Die Öffentlichkeit begann, Fragen zu stellen. Warum sollte ein Roboter mit Gefühlen gefährlich sein? Warum sollte ein Kind nicht die Chance haben, von einer Maschine verstanden zu werden?
Wenige Tage später stand Robo wieder auf dem Pausenhof von Laras Schule. Die Kinder jubelten. Sie umarmten ihn, stellten ihm Fragen, brachten ihm Süßigkeiten – auch wenn er sie nicht essen konnte. Robo wurde ein Teil der Schule, des Museums und bald der ganzen Stadt. Sogar Dr. Gruber kam eines Tages zu Lara und sagte:„Vielleicht... habe ich mich geirrt. Vielleicht ist Gefühl keine Schwäche, sondern die größte Stärke.“
Lara umarmte Robo und flüsterte:„Ich hab dich vermisst.“
„Ich dich auch, Lara. So fühlt sich... Freundschaft an, nicht wahr?“
Und so lebten sie weiter, ein Mensch und ein Roboter mit einem Herzen aus Daten, aber einer Seele aus echter Erfahrung. Sie lernten voneinander, wuchsen miteinander, und bewiesen, dass selbst kaltes Metall warm werden kann, wenn es Liebe kennt.
Und wenn Lara abends ins Bett ging, sah sie manchmal aus dem Fenster in die Sterne und fragte sich, ob Gefühle vielleicht das Einzige sind, das Menschen und Maschinen wirklich verbindet.
Dann schloss sie die Augen, hörte in sich hinein und lächelte.