Ein Haus sucht eine Familie - Gute-Nacht-Geschichte
- Michael Mücke
- vor 5 Tagen
- 4 Min. Lesezeit

Es war einmal ein kleines Haus auf einem weiten, offenen Feld. Es stand dort schon sehr lange, so lange, dass es sich nicht mehr erinnern konnte, wann es zuletzt jemand bewohnt hatte.
Das Haus hatte ein rotes Dach, das sich bei Sonne warm anfühlte, ein paar moosgrüne Fensterläden, die bei Wind leise klapperten, und einen kleinen Kamin, der gern rauchte, wenn er durfte. Die Tür war aus hellem Holz, vom Wetter leicht verblichen, aber sie hielt stand wie das ganze Haus. Stark. Beständig. Und still.
Jeden Tag betrachtete das Haus den Himmel. Es sah, wie die Wolken vorbeizogen, wie Rehe über das Feld hüpften und Vögel unter seinem Dach nisteten. Manchmal blieb ein Schmetterling auf der Fensterbank sitzen. Manchmal sang eine Amsel auf dem Schornstein. Aber nie blieb jemand lange. Das Haus war allein.
„Ich habe Platz für Stimmen, für Lachen und Leben,“ murmelte das Haus oft. „Ich habe einen Dachboden voller Geschichten, eine Küche voller Düfte und ein Herz aus Stein, das Liebe speichern kann.“
Es war ein gutes Haus. Und es wusste das. Aber es war einsam.
Die Jahre vergingen. Der Putz bröckelte ein wenig. Das Gras wuchs höher. Doch das Haus verlor nie die Hoffnung. Jeden Morgen knarrte es leise und reckte sich der Sonne entgegen, als wolle es rufen: „Ich bin hier! Ich bin bereit!“
Eines Abends, als die Dämmerung golden über das Feld rollte, geschah etwas Ungewöhnliches. Ein alter Dachs erschien zwischen den Büschen. Er trug eine kleine, schiefe Brille auf seiner schwarzen Nase und hatte eine Tasche auf dem Rücken. Er blieb vor dem Haus stehen, schnüffelte und schob seine Brille zurecht.
„Du bist immer noch da,“ sagte der Dachs. „Und du wartest noch immer.“
„Ich bin nicht müde vom Warten,“ antwortete das Haus. „Ich bin nur voll Sehnsucht.“
Der Dachs setzte sich auf die unterste Stufe der Veranda und holte einen Apfel aus seiner Tasche. Während er daran knabberte, erzählte er von einer Familie, die er getroffen hatte: einem Mann, der Geschichten sammelte, einer Frau, die Gärten liebte, einem Mädchen, das nie stillsitzen konnte, und einem Jungen, der fast nie sprach, aber viel sah.
„Sie suchen ein Zuhause, das zu ihnen spricht,“ sagte der Dachs. „Nicht laut, aber ehrlich. Vielleicht… solltest du morgen ein bisschen fröhlicher wirken.“
Das Haus war aufgeregt. So aufgeregt, dass es kaum die Nacht abwarten konnte. Als der Morgen graute, streckte es seine Dachsparren und schüttelte den Staub aus den Fensterbrettern. Die Vorhänge wehten freundlich, das Holz glänzte vom Morgentau. Im Kamin duftete es nach altem Rauch, und in der Küche lag noch immer der süße Geruch von Äpfeln, die dort einmal eingelagert worden waren.
Die Familie kam. Der Dachs führte sie über das Feld, mit wackeligen Schritten und leiser Stimme.
„Da ist es,“ sagte er. „Es hat euch gerufen.“
Der Mann blieb stehen, als hätte er etwas gehört. Die Mutter zog den bunten Schal enger um sich. Die Kinder liefen voraus.
„Papa! Es hat einen Dachboden!“ rief das Mädchen, als sie ums Haus herumspähte.
„Hier sind überall Blumen, obwohl keiner sie pflanzt,“ staunte die Mutter.
Der Vater trat auf die Veranda. Der Dielenboden ächzte leicht, aber freundlich. Er berührte den Türrahmen und sagte leise: „Es fühlt sich lebendig an… als wäre es froh, uns zu sehen.“
Die Tür öffnete sich mit einem leisen, ehrlichen Quietschen.
Drinnen war es still – aber nicht leer. Es war warm. Nicht heiß, sondern so, wie eine dicke Decke an einem Herbstabend. Die Wände hatten Narben, kleine Risse, Zeichen einer langen Geschichte. Und doch war da ein Frieden, den keiner von ihnen erwartet hatte.
Die Kinder rannten herum, erkundeten jedes Zimmer. Das Mädchen fand eine lose Diele im Boden und quietschte vor Freude, als sie darunter eine kleine, verstaubte Holzfigur entdeckte – einen geschnitzten Vogel.
„Vielleicht hat das Haus ihn behalten, damit wir ihn finden,“ sagte sie.
Der Junge saß auf dem Fensterbrett eines kleinen Zimmers im Obergeschoss. „Von hier sieht man alles,“ murmelte er. „Man fühlt sich sicher.“
Die Mutter öffnete ein Fenster zur Küche hinaus und sog tief die Luft ein. „Ich werde hier Kräuter pflanzen. Und Tomaten. Und vielleicht eine Rose.“
Der Vater sah sich um und nickte. „Wir bauen keine Häuser – sie bauen uns,“ sagte er leise. „Ich glaube, wir gehören zusammen.“
Das Haus hätte weinen können vor Glück, wenn es Tränen gehabt hätte. Stattdessen atmete es tief ein, seine Fenster glitzerten, die Dielen summten leise, und der Wind trug seinen Dank hinaus aufs Feld.
In den folgenden Tagen begann ein neues Leben. Möbel wurden gebracht, Spielzeug lag plötzlich im Wohnzimmer, und das Haus füllte sich mit Geräuschen: Tellerklirren, Schuhe auf Holz, Lachen, Streiten, Singen.
Das Haus nahm alles in sich auf das Glück und die kleinen Sorgen. Es kannte jetzt das Gefühl von Alltag, von Geborgenheit.
Abends, wenn alle schliefen, hörte das Haus zu: dem gleichmäßigen Atmen, dem Rascheln von Decken, dem Tropfen des Regens auf das Dach. Und manchmal, wenn alle schliefen, summte es ganz leise eine Melodie, die nur alte Häuser kennen. Eine Melodie, die von Ankommen erzählt.
Der Dachs kam manchmal noch vorbei. Er setzte sich auf die Veranda und hörte dem Haus beim Summen zu.
„Du hast sie gefunden,“ sagte er dann. „Oder sie dich.“
Und das Haus antwortete leise: „Wir haben einander gefunden.“
Und so endete die lange Reise eines Hauses, das seine Familie gesucht hatte. Oder besser gesagt: So begann das Leben eines Zuhauses.