Der unsichtbare Held der Unterwelt - eine spannende, gruselige Kindergeschichte zum Vorlesen
- Michael Mücke

- 3. Aug.
- 3 Min. Lesezeit

Es war eine Nacht, in der selbst der Mond sich hinter dicken Wolken versteckte, als Jorin zum ersten Mal von dem geheimnisvollen Reich unter dem Wald hörte. Die Geschichten seiner Großmutter hatten sich in seinen Kopf wie ein sanfter, aber fester Zauber eingeprägt.
Sie erzählte von einer Welt unter der Erde, die aus purer Dunkelheit, kaltem Stein und flüsternden Schatten bestand. Diese Unterwelt war kein Ort für Menschen, doch ein unsichtbarer Held beschützte die Mutigen, die sich dort verirren könnten.
Jorin war anders als die anderen Kinder. Er liebte das Unbekannte und die Geschichten, die Gänsehaut machten. Immer wieder sah er in seinen Träumen die leuchtenden Pilze, die wie winzige Laternen in der Dunkelheit glühten, und hörte das Knistern von unsichtbaren Wesen, die durch die Gänge huschten. Manchmal fühlte es sich an, als würde jemand ihn rufen – eine Stimme, so fern und zugleich nah, dass sein Herz schneller schlug.
Eines Abends, als die Nacht besonders still war und nur das leise Rascheln der Blätter zu hören, entschied Jorin, dass es an der Zeit war, den geheimen Eingang zu finden. Er schlich sich aus dem Haus, spürte die kühle Luft auf seiner Haut und folgte dem Weg, den ihm die Großmutter beschrieben hatte. Der Wald wirkte im Mondschein wie ein lebendiges Wesen, mit Schatten, die sich zu bewegen schienen, und einem leisen Flüstern, das durch die Bäume zog.
Endlich erreichte er den krummen Stein, unter dem sich die Spalte öffnete. Der Eingang war eng, kaum breiter als seine Schultern, und eine kalte Luft strömte ihm entgegen. Es roch nach Erde, Feuchtigkeit und etwas Fremdem, etwas, das tief in den Knochen kribbelte. Mit klopfendem Herzen kletterte Jorin hinein.
Die Dunkelheit nahm ihn sofort gefangen. Doch da waren auch die Pilze, die sanftes, bläuliches Licht ausstrahlten und die Gänge wie von Zauberhand erhellten. Die Wände fühlten sich feucht und lebendig an, als würden sie atmen. Jorin hörte Schritte, die nicht von ihm stammten, das Wispern von Stimmen, die weder freundlich noch feindlich klangen, sondern nur da waren – zwischen den Schatten und dem Stein.
Dann, tief in der Unterwelt, entdeckte er das Mädchen. Ihre Augen waren groß und voller Angst, ihre Stimme kaum hörbar, als sie sagte: „Bitte, hilf mir. Ich habe mich verirrt. Die Schatten wollen mich hier behalten.“
Jorin spürte einen kalten Schauder, als die Schatten um sie herum wuchsen und sich wie lebendige Wesen ausbreiteten. Sie zogen sich langsam zusammen, ihre Formen wurden deutlicher, verzerrt und furchteinflößend.
Gerade als sie sie eingehüllt hatten, erschien der Unsichtbare Held. Er war nicht sichtbar, doch seine Präsenz war spürbar. Es war, als würde eine unsichtbare Wand zwischen Jorin und den Schatten errichtet, die deren kalte Finger fernhielt.
Eine Stimme, tief und ruhig, erfüllte den Raum: „Fürchte dich nicht. Du bist mutiger, als du glaubst.“
Der Schatten begann zu zischen und zu knistern, als ob sie gegen eine unsichtbare Macht ankämpften, dann verschwanden sie nach und nach in den Fugen der Steine. Jorin fühlte, wie eine unsichtbare Hand seine Schulter berührte – warm, beruhigend und kraftvoll zugleich. Er wusste, dass der Held bei ihm war.
Der Rückweg war nicht weniger gefährlich. Das Labyrinth der Unterwelt veränderte sich, Gänge verschoben sich, und aus der Dunkelheit schlichen neue Schatten hervor, die neugierig und bedrohlich zugleich waren. Doch Jorin und das Mädchen folgten der sanften Führung des Helden, der sie sicher durch das Dunkel lotste.
Als sie schließlich wieder Tageslicht sahen, war die Welt verändert. Das Mädchen lächelte, und in ihren Augen lag eine neue Kraft. Jorin hielt den schwarzen Stein in seiner Hand, der im Licht geheimnisvoll schimmerte. Er wusste, dass die Unterwelt ihn geprüft hatte – und dass der Unsichtbare Held immer bei denen war, die sich ihrer Angst stellten.
Noch heute erzählt man sich im Dorf, dass in den dunkelsten Stunden, wenn der Wind durch die Bäume heult und die Schatten lang werden, der Unsichtbare Held durch die Unterwelt wandert. Unsichtbar für die meisten, aber stets bereit, jene zu retten, die den Mut haben, ihm zu vertrauen.
„Denn Mut ist nicht die Abwesenheit von Angst,“ sagt die alte Legende, „sondern die Kraft, ihr entgegenzutreten – selbst in der tiefsten Dunkelheit.“




