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Jonas entdeckt ein geheimes Baumdorf - Geschichte zum Vorlesen

  • Autorenbild: Michael Mücke
    Michael Mücke
  • 5. Juli
  • 4 Min. Lesezeit
Jonas steht im geheimen Baumdorf im Wald

Jonas war elf Jahre alt, hatte ein waches Gesicht, zerzauste Haare und ein besonderes Gespür für alles, was geheimnisvoll war. Schon seit Jahren hörte er von Erwachsenen Sätze wie: „Da ist nichts weiter im Wald, nur Bäume und Mücken.“ Doch Jonas glaubte das nicht. Besonders nicht bei dem Wald hinter dem Haus seiner Großeltern. Dieser Wald war anders.


Er war alt. Das sah man an den dicken, borkigen Stämmen, die wie Säulen aus dem Boden ragten. Das hörte man an der Art, wie der Wind durch die Blätter fuhr – nicht wie ein normales Rascheln, sondern mehr wie ein leises Flüstern, als würden die Bäume sich unterhalten. Und das spürte man, wenn man am Rand stand: Etwas da drinnen war... besonders.


Jeden Sommer verbrachte Jonas eine Woche bei Oma und Opa. Und jedes Jahr sagte er sich: „Dieses Mal geh ich tiefer hinein.“ Aber bisher war er nie weit gekommen. Entweder wurde es zu schnell dunkel, oder der Weg verlor sich, oder ein Schwarm Bremsen machte ihm die Lust am Weitergehen kaputt. Doch in diesem Jahr war es anders.


Der Tag war ruhig, das Wetter mild, und seine Großeltern schliefen gerade auf der Terrasse ein. Jonas packte eine Wasserflasche, ein paar Kekse, einen Notizblock, ein Taschenmesser, ein altes Kompass-Armband und ein kleines Fernglas in seinen Rucksack. Er zog feste Schuhe an, schloss leise die Tür und verschwand zwischen den ersten Bäumen.


Der Anfang des Weges war bekannt – ein ausgetretener Trampelpfad, der sich zwischen den Birken schlängelte. Doch bald wurde der Wald dichter. Das Licht fiel nur noch in kleinen Flecken auf den Boden. Jonas hörte seinen eigenen Atem, hörte, wie sich seine Jacke bei jedem Schritt leise bewegte. Immer wieder blieb er stehen, lauschte, horchte – aber es war nur der Wind oder ein Specht in der Ferne.


Nach einer Stunde Fußmarsch – Jonas hatte unterwegs Pausen gemacht, Skizzen von Pilzen gezeichnet und Wasser getrunken – entdeckte er etwas Seltsames. Eine dicke Baumwurzel stieg schräg aus dem Boden wie eine Rampe.


Und direkt dahinter begann eine Art Trampelpfad, fast überwachsen, aber deutlich von Menschenhand angelegt. Jonas folgte ihm, seine Finger strichen über das raue Holz eines alten Geländers, das aus dem Boden ragte. Der Weg führte langsam bergauf, in eine kleine Anhöhe hinein, die ihm vorher nie aufgefallen war.


Dann geschah es. Jonas trat durch ein Dickicht aus Farnen und war plötzlich in einer offenen Lichtung. Die Luft war still. Und da sah er es.


Zwischen den mächtigen Bäumen, etwa drei bis fünf Meter über dem Boden, spannte sich eine Reihe von Baumhäusern. Richtig gebaut, mit Fensterläden, Geländern, Dächern aus Holzschindeln. Sie waren mit Seilbrücken verbunden, die sich leicht im Wind bewegten. Einige Häuser hatten Aufziehvorrichtungen aus Seil und Eimern. Jonas stand da wie angewurzelt.


„Das gibt's doch nicht…“ murmelte er.


Er ging näher. Die Plattformen waren mit Bedacht gebaut. Keine Nägel in die Bäume – nur festgezurrte Seilverbindungen, massive Holzbalken. Jonas kletterte eine schmale Leiter hoch, die an einem der Baumstämme hing. Sie knarzte, aber hielt. Er betrat das erste Baumhaus vorsichtig.


Innen war es still. Ein Tisch, ein Hocker, ein Regal mit einem Notizbuch darin. Aufgeschlagen, mit sauberer Handschrift. Darin standen Beobachtungen über Vögel, Wetter, Sonnenaufgänge. Das letzte Datum war keine Woche alt. Jonas blätterte weiter: kleine Zeichnungen von Pflanzen, Skizzen von Holzkonstruktionen, Anmerkungen über Reparaturen.


„Jemand lebt hier… oder kommt regelmäßig her.“


In einem zweiten Baumhaus war eine Hängematte gespannt. Daneben lag ein Teleskop. Alles war einfach, aber durchdacht. In einem Regal stand eine Schachtel mit Werkzeug. Es gab einen Kanister mit Regenwasser und eine kleine Solarlampe an der Wand.

Jonas hörte plötzlich ein Rascheln. Unten, am Boden. Jemand näherte sich.


Er duckte sich ans Fenster. Ein Junge, vielleicht ein oder zwei Jahre älter, trug einen Rucksack und eine zusammengerollte Plane. Er war barfuß, hatte schmutzige Hosen, und sein Blick war aufmerksam, nicht überrascht. Er stellte die Sachen ab, sah sich um – dann blickte er direkt zu Jonas hoch.


„Na, endlich hat’s mal wieder jemand gefunden.“


Jonas erschrak, aber nicht aus Angst – eher, weil der andere Junge so ruhig war. Er stieg vorsichtig die Leiter hinunter. Unten standen sie sich gegenüber.


„Ich bin Jonas.“


„Ich bin Mattis,“ sagte der Junge, als wäre es das Normalste der Welt, ein Baumdorf mitten im Wald zu bewohnen.


„Warst du schon lange unterwegs?“

„Zwei Stunden vielleicht. Ich wusste nicht, dass es das hier gibt.“


„Die meisten wissen das nicht,“ antwortete Mattis. „Das Dorf wurde vor vielen Jahren von einer Gruppe gebaut, die hier regelmäßig gelebt hat. Naturbeobachter, Aussteiger, Leute, die den Lärm satt hatten. Mein Vater hat das als Kind entdeckt. Jetzt kümmere ich mich darum.“


Jonas staunte. „Allein?“


„Meistens ja. Ich komme her, wenn ich meine Ruhe will. Oder um etwas zu reparieren. Oder zu denken. Manchmal bleibt mein Vater für ein paar Tage.“

Sie redeten noch lange. Mattis zeigte ihm, wie man Wasser filtert, wie man ein Seil sichert, wie man einen morschen Ast erkennt, bevor man drauftritt.


Sie sammelten trockene Äste für das Feuer, säuberten die Plattformen und notierten neue Ideen in ein gemeinsames Heft. Jonas fühlte sich frei wie nie. Keine Autos, keine Termine, kein WLAN – nur der Wald, Holz unter den Füßen, ein Rucksack mit dem Nötigsten, und jemand, der verstand, was daran so schön war.


Als die Sonne tiefer stand und der Himmel sich orange färbte, wurde die Lichtung ganz still. Nur das Rufen eines Käuzchens war zu hören. Jonas seufzte.


„Ich muss zurück. Meine Großeltern wissen nicht, wo ich bin.“


Mattis nickte. „Verstehe ich. Aber du darfst wiederkommen. Du weißt jetzt, wo es ist. Und das Dorf merkt sich seine Besucher.“


Jonas lächelte. „Ich werde es keinem sagen. Versprochen.“


„Das tust du besser nicht,“ sagte Mattis, ohne Lächeln, aber auch ohne Härte. „Das hier funktioniert nur, wenn es geheim bleibt.“


Jonas ging zurück durch den Wald. Die Schatten wurden länger, das Licht schwächer, aber sein Herz war warm. Er hatte etwas gefunden, was nicht jeder finden würde. Nicht mit GPS, nicht mit Google, sondern mit Geduld, mit offenen Augen und einem offenen Herzen.


Zu Hause angekommen, sagte er nur, er habe einen langen Spaziergang gemacht. In der Nacht lag er wach in seinem Bett und stellte sich die Häuser vor. Die Hängebrücken. Die Hängematte. Die Ruhe.


„Ich komme wieder, Baumdorf. Und dann bringe ich Werkzeug mit.“

Mit diesem Gedanken schloss er die Augen – und schlief tief und zufrieden ein.

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