Felis und die Traum-Kamele - Gute-Nacht-Geschichte
- Michael Mücke
- 13. Mai
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 16. Mai

Es war eine dieser besonderen Nächte, in denen die Sterne besonders hell und dicht am Himmel standen, fast so, als wollten sie der Erde zuflüstern: „Heute geschieht etwas Magisches.“
In einem kleinen Häuschen am Rand eines verwunschenen Waldes lebte der junge Kater Felis. Er war nicht größer als ein Ofenkissen, sein Fell war silbergrau mit kleinen weißen Punkten auf der Stirn, die aussahen wie winzige Schneeflocken.
Seine Augen schimmerten bernsteinfarben und funkelten im Dunkeln wie kleine Laternen.
Felis war ein Träumer. Er liebte es, sich Geschichten auszudenken, nachts die Sterne zu beobachten und leise dem Flüstern des Windes zu lauschen. Oft saß er stundenlang am Fenster, eingekuschelt in eine Decke, und überlegte, ob wohl jemand auf einem Stern wohnen könnte.
Oder ob der Mond eigentlich traurig war, weil er immer allein am Himmel stand. Seine beste Freundin, die alte Eule Mira, lebte im Baum direkt vor seinem Fenster und passte jede Nacht auf ihn auf.
An diesem Abend jedoch war etwas anders. Es war, als würde die Nacht vibrieren – nicht laut, sondern ganz sacht, wie das Kribbeln im Bauch vor einem aufregenden Abenteuer.
Felis war gerade dabei, sich auf seinem Fensterplatz ein gemütliches Nest aus Kissen zu bauen, als er ein leises Geräusch hörte: plopp… plopp… plopp… – es klang wie das Geräusch von dicken Wassertropfen auf Moos, weich und doch irgendwie bestimmt.
Felis’ Ohren zuckten. „Das kommt vom Garten,“ murmelte er und sprang neugierig vom Fensterbrett. Er band sich sein kleines, rotes Halstuch um – das trug er immer, wenn er sich mutig fühlte und schlich leise durch die knarrende Holztür hinaus in die Nacht.
Draußen empfing ihn der Duft von nasser Erde, Lavendel und dem kühlen Hauch der Sterne. Der Garten lag still im Licht des runden, leuchtenden Mondes, der die Wiese in ein silbriges Meer verwandelte.
Und mitten auf diesem weichen, glänzenden Rasen standen drei Tiere, wie Felis sie noch nie gesehen hatte.
Sie waren groß, aber nicht bedrohlich eher gemütlich groß, wie riesige Wolken, die auf Beinen standen. Ihr Fell war lang, weich und lockig wie Zuckerwatte, und jede hatte eine andere Farbe: eines war sanft rosé, das andere babyblau, und das dritte ein zartes Lavendelviolett.
Sie hatten freundliche Augen mit langen Wimpern, und aus ihren Nüstern stieg ein ganz leichter Nebel auf, der nach Vanille und Honig roch.
„Wer… wer seid ihr?“, fragte Felis mit großen Augen.
Das rosafarbene Tier lächelte ja, es konnte lächeln und antwortete mit einer Stimme, die wie ein Streicheln klang: „Wir sind die Traum-Kamele. Wir kommen, wenn ein Herz besonders weit träumen will.“
Felis schluckte. „Die… Traum-Kamele?“
„Ja,“, sagte nun das hellblaue Kamel mit einer tiefen, ruhigen Stimme, „wir reisen durch die Träume der Kinder und bringen ihnen Geschichten, Abenteuer und Geborgenheit – alles, was sie brauchen, um leicht und fröhlich durch die Nacht zu fliegen.“
Das dritte, das lavendelfarbene, trat näher. Es beugte sich zu Felis herunter und stupste ihn ganz sanft mit der Nase. „Und heute Nacht, kleiner Kater, hast du uns gerufen.“
Felis sah verwundert auf. „Ich? Aber ich hab doch gar nichts gesagt.“
„Du hast gedacht. Und das reicht. Deine Gedanken sind wie leuchtende Fäden in der Dunkelheit. Und wir haben sie gefunden.“
Felis schaute zurück zu seinem Fenster. Mira saß noch immer da, auf ihrem Ast, und sah ihm zu. Sie blinzelte ihm zu ganz langsam so, wie nur alte, weise Eulen es tun. Es war, als würde sie sagen: „Geh nur, mein Kleiner. Es ist Zeit.“
„Dann… will ich mitkommen.“
Kaum hatte Felis das gesagt, kniete sich das blaue Kamel vor ihm nieder. „Steig auf. Wir fliegen.“
Felis sprang hinauf , das Fell war so weich, dass er fast darin versank. Er legte sich auf den Rücken des Kamels, und ohne einen Laut zu machen, hoben sie sich in die Luft.
Langsam, fast wie schwerelose Ballons, schwebten sie höher und höher. Unter ihnen wurde der Garten klein wie ein Spielzeug. Sie flogen über den dunklen Wald, über Flüsse, die wie glitzernde Bänder durch die Landschaft zogen, über Dörfer mit schlafenden Häusern, aus deren Schornsteinen kleine Rauchfäden stiegen.
Der Himmel über ihnen war erfüllt von leuchtenden Traumblasen – runde, schimmernde Kugeln, in denen ganze Welten zu sehen waren. In einer ritt ein Kind auf einem fliegenden Delfin über ein Meer aus Konfetti. In einer anderen sang ein Teddybär in einem Zirkus aus Licht.
„Was sind das für Blasen?“, fragte Felis und staunte.
„Das sind die Träume der Kinder. Manche ganz leise, manche wild und bunt. Wir hüten sie.“
Sie flogen weiter, vorbei an einem schlafenden Regenbogen, dessen Farben sanft pulsierten, und durch einen Schwarm schimmernder Traumfedern, die beim Berühren leise klingelten. Alles war ruhig. Alles war friedlich.
Plötzlich landeten sie auf einer riesigen Wolkeninsel, die von unten von kleinen Glühwürmchen getragen wurde. Dort saß ein kleiner Hase, zusammengekauert, mit nassen Augen. Felis sprang ab.
„Was ist passiert?“, fragte er.
„Ich… ich hatte einen wunderschönen Traum von meiner Mama. Wir haben gemeinsam Möhrenkuchen gebacken und gelacht. Aber dann ist er einfach weggeflogen. Jetzt ist er fort.“
Das rosa Kamel neigte den Kopf. „Träume können sich verstecken, wenn man sich fürchtet. Aber sie gehen nie ganz verloren.“
Felis nickte. Gemeinsam begannen sie zu suchen. Sie krochen durch die weiche Zuckerwatten-Landschaft, lauschten in kleine Traumhöhlen, untersuchten schimmernde Pfützen aus Erinnerungen. Schließlich fanden sie unter einem leuchtenden Traumblatt einen winzigen Faden golden, vibrierend.
„Da ist er.“, flüsterte Felis.
Das lavendelfarbene Kamel nahm den Faden behutsam mit den Lippen auf, ließ ihn über seine Nase gleiten und pustete ihn sanft zum Hasen zurück.
Der Hase lächelte im Schlaf. „Danke.“
Sie stiegen wieder auf und flogen weiter durch das Reich der Träume. Irgendwann erreichten sie einen Ort, der ganz still war. Keine Traumblasen, keine Federn, nur endloser, sanft schimmernder Nebel.
„Wo sind wir?“, fragte Felis.
„Im Reich der ruhigen Gedanken,“, sagte das blaue Kamel. „Hier landen alle, die etwas loslassen wollen. Hier erinnern wir uns, dass Träumen nicht immer laut sein muss.“
Felis legte sich hin, schloss die Augen. Alles war weich, warm und geborgen. Der Nebel summte ein Lied, ohne Worte, nur aus Klang und Gefühl. Der Atem der Kamele war gleichmäßig, wie das Ticken einer Herzuhr.
„Willst du zurück?“, fragte das rosa Kamel nach einer Weile.
Felis öffnete die Augen und lächelte. „Ja. Ich glaube, ich weiß jetzt, wie Träume fliegen.“
Sie trugen ihn zurück, über das Land der fliegenden Geschichten, über die Wiesen aus Licht, über die Städte aus Schlaf. Leise, fast unbemerkt, setzten sie ihn in sein kleines, weiches Bett. Das Halstuch lag noch immer um seinen Hals. Mira schnarchte leise von ihrem Ast.
Bevor sie verschwanden, flüsterte das lavendelfarbene Kamel noch: „Wenn du uns brauchst – schau einfach in den Himmel. Wir sind da.“
Felis murmelte im Halbschlaf: „Bis bald, meine flauschigen Traum-Kamele.“ Und mit einem Lächeln auf den Lippen glitt er in den tiefsten, schönsten Schlaf seines Lebens.
Und draußen, zwischen zwei Wolken, schwebten drei leuchtende Schatten davon lautlos, weich und voller Geschichten.