Die Reise ins Land der Riesen - eine fantasievolle Geschichte für Kinder zum Vorlesen
- Michael Mücke

- 5. Aug.
- 4 Min. Lesezeit

Es war einmal ein kleines Mädchen namens Lina, das in einem winzigen Haus am Rand eines weiten Waldes lebte. Das Dorf, in dem sie wohnte, war still, friedlich und ein bisschen langweilig. Während andere Kinder gerne in der Sonne spielten oder mit ihren Eltern im Garten halfen, saß Lina oft am Fenster, sah in die Ferne und träumte von Wundern, Abenteuern und geheimnisvollen Ländern.
Sie war ein ungewöhnliches Kind – sie sammelte lieber Kieselsteine mit seltsamen Mustern, las alte Bücher, in denen von verlorenen Königreichen und fliegenden Pferden erzählt wurde, und sprach mit dem Wind, als könne er ihr antworten. „Ich weiß, dass da draußen etwas Größeres auf mich wartet,“ sagte sie oft in den Himmel.
Eines Nachts, als ein besonders starker Sturm über das Dorf hinwegfegte, geschah etwas Seltsames. In ihrem Zimmer flackerten die Kerzen, obwohl kein Fenster offen stand. Ihr altes Bücherregal begann leise zu knarren, und ein leuchtender Windhauch wehte durch den Raum.
Plötzlich öffnete sich das unterste Fach des Regals, das bis dahin immer verschlossen gewesen war. Darin lag ein silberner Schlüssel und ein Stück Papier, auf dem in goldener Schrift stand: „Folge dem Flüstern der Bäume. Der Weg wird sich zeigen.“
Lina zögerte nicht. Sie zog sich warm an, schlich sich leise aus dem Haus und trat hinaus in die dunkle, stürmische Nacht. Der Regen hatte aufgehört, doch der Himmel glühte seltsam blau, und die Bäume flüsterten wirklich. Nicht laut, nicht deutlich – eher wie ein fernes Lied aus alten Zeiten. Sie folgte dem Klang durch den Wald, tiefer, als sie je gegangen war.
Nach einer langen Wanderung kam sie zu einer riesigen Eiche, deren Stamm so dick war wie ein ganzes Haus. An ihrer Seite entdeckte sie ein uraltes Tor mit einem Schlüsselloch. Der silberne Schlüssel passte perfekt. Ein leiser Klick, ein sanftes Leuchten – und das Tor öffnete sich.
Dahinter lag eine Welt, die kein Mensch je zuvor betreten hatte.
Alles war gigantisch. Die Blumen waren so hoch wie Bäume, Schmetterlinge groß wie Pferde flogen langsam durch die Luft, und der Himmel war von einem sanften Lila, durchzogen von glitzernden Bahnen aus Licht. Sie trat hinaus und staunte. Über ihr bewegten sich gewaltige Gestalten – Riesen, doppelt so groß wie Bäume, mit langen Haaren, mächtigen Händen und tiefen Stimmen, die wie Donner klangen, wenn sie lachten.
Doch es waren keine wilden Monster. Die Riesen waren freundlich, weise und voller Geschichten. Der erste, den sie traf, war ein alter Riese mit Moos im Bart, der sich als Brummdar vorstellte. „Willkommen, Menschenkind. Wir haben dich erwartet.“
Brummdar führte sie in das Herz des Landes, in die Stadt Gigantora, die zwischen zwei leuchtenden Bergen lag. Die Häuser waren aus gläsernem Holz gebaut, die Straßen mit weichem Moos bedeckt. Die Riesen ritten auf riesigen Vögeln, tranken aus Wasserfällen und spielten Musikinstrumente, die aus Himmelssteinen gefertigt waren.
Lina freundete sich mit einem jungen Riesenjungen an, der kaum größer war als ein Haus. Sein Name war Tilor. Er war neugierig wie sie und hatte noch nie einen Menschen gesehen. Gemeinsam erkundeten sie das Land – sie reisten auf dem Rücken einer Riesenschildkröte über die Glitzerseen, flogen mit Windwalen durch die Lüfte und lernten sprechende Felsen kennen, die Geschichten aus der Urzeit erzählten.
Doch bald erfuhr Lina, dass das Land der Riesen in Gefahr war.
Ein uralter Feind war zurückgekehrt: Morvak, der Steinlose Riese. Einst war er einer der mächtigsten unter ihnen gewesen, doch er hatte sein Herz verloren – ein leuchtender, schwebender Kristall, den alle Riesen in ihrer Brust trugen. Ohne Herz wurde Morvak kalt, leer und grausam. Er war in das Schattengebirge gezogen und hatte dort ein Heer aus Steinriesen geschaffen, seelenlose Kreaturen, die das Land überrennen wollten.
„Er will uns alle zu Stein machen, so wie er es ist,“ erklärte Tilor. „Nur ein Wesen mit einem lebendigen Herzen kann den Zauber brechen.“
Wieder stand Lina vor einer Entscheidung. Sie hatte keine Waffen, keine Zauberkräfte – nur ihre Entschlossenheit, ihre Fantasie und ihr Herz. Sie willigte ein, die Riesen auf ihrer Reise zu begleiten.
Königin Magnava – die weise Herrscherin des Landes – überreichte ihr ein Gewand aus Lichtseide, das sie vor dunkler Magie schützen sollte, und einen kleinen Spiegel, in dem man die wahre Gestalt eines Wesens sehen konnte.
Der Weg in die Schattengebirge war gefährlich. Sie durchquerten den Nebelwald, in dem Flüstermonster versuchten, ihre Gedanken zu verdrehen. Sie kletterten durch den glühenden Kraterpass, wo das Gestein selbst lebendig war. Und in einer tiefen Höhle trafen sie die Hüterin der Zeit, eine riesige Spinne mit silbernen Augen, die ihnen ein Rätsel stellte, das sie nur gemeinsam lösen konnten.
Lina bewies Mut, Klugheit und Herz. Als sie endlich vor Morvaks Festung stand – einem schwarzen Turm, der aus der Erde selbst zu wachsen schien – war sie nicht mehr das stille Mädchen vom Dorf, sondern eine wahre Heldin.
Im Innern des Turms war es still wie in einem Grab. Dort stand Morvak, hoch wie ein Berg, mit einer Stimme wie berstendes Eis. „Was willst du, Menschenkind? Willst du mich zerstören?“
Lina trat vor. Sie hielt ihm den Spiegel entgegen – und darin sah er nicht nur sein eigenes Gesicht, sondern auch das Herz, das er einst verloren hatte: es war voller Licht, Erinnerung und Wärme.
„Ich will dich nicht besiegen,“ sagte Lina, „ich will dich erinnern.“
Da begann der Turm zu beben. Morvaks Steinpanzer riss auf, und aus seinem Innern brach ein Licht hervor, das lange verborgen gewesen war. Er fiel auf die Knie und weinte – und seine Tränen verwandelten sich in Blumen aus Stein.
Der Krieg war beendet, die Steinriesen zerfielen, und das Land der Riesen erwachte zu neuem Leben. Zum Dank errichteten sie Lina ein Denkmal aus Sternenstaub und Moos in der Mitte der Stadt – ein Ort, an dem man sich immer an die Macht eines mutigen Herzens erinnern sollte.
Als sie sich verabschiedete, drückte Tilor ihr einen winzigen Stein in die Hand, der warm pulsierte. „Solange er schlägt, sind wir verbunden.“
Lina trat durch das Tor zurück in ihre Welt, wo der Morgen gerade dämmerte. Ihre Eltern schliefen noch. Alles war wie immer – und doch nicht. Der Stein in ihrer Hand leuchtete schwach, und wenn sie nachts in den Himmel blickte, sah sie manchmal einen Windwal zwischen den Sternen tanzen.
Denn das Land der Riesen war nicht vergessen – es lebte in ihr weiter.
„Manchmal braucht es nur ein Kind mit einem offenen Herzen, um eine ganze Welt zu retten.“
Und Lina? Sie träumte weiter. Doch nun wusste sie: Träume können wahr werden.




