Die Prinzessin und ihr unsichtbarer Drache - Gute-Nacht-Geschichte
- Michael Mücke

- 20. Mai
- 4 Min. Lesezeit

Es war einmal ein Königreich, das von einem See umgeben war, so groß, dass man vom einen Ufer das andere kaum erkennen konnte. Auf einer Insel mitten im See stand ein Schloss aus schimmerndem Obsidian und glänzendem Glas.
Dort lebte Prinzessin Marla mit ihrem Vater, dem König, ihrer Mutter, der Königin, und einem ganz und gar unsichtbaren Drachen, den niemand sehen, aber alle irgendwie spüren konnten.
Niemand im Schloss wusste von dem Drachen, nicht einmal die Königlichen Katzen, und das war eine beachtliche Leistung, denn die Katzen spürten normalerweise jedes Flattern, jeden Schatten, jeden geheimen Atemzug. Nur Marla kannte die Wahrheit. Seit ihrem sechsten Geburtstag hatte sie einen Freund, der nie zu sehen war, aber immer zur Stelle: Brummel, der unsichtbare Drache.
Brummel war kein gewöhnlicher Drache. Er war ein Bibliotheksdrache, wie er selbst betonte. „Ich bevorzuge Wissen statt Wut, Bücher statt Beute, und ich kann das Alphabet rückwärts rülpsen.“
Marla liebte ihn vom ersten Tag an. Brummel war warm, freundlich und oft ein wenig brummig – daher auch sein Name. Er konnte Geschichten erzählen, die so lang waren, dass selbst der König einschlief, wenn sie einmal aus Versehen im Thronsaal erzählt wurden.
Tagsüber war Marla eine ganz normale Prinzessin, soweit eine Prinzessin mit einem unsichtbaren Drachen eben normal sein konnte. Sie lernte höfisches Benehmen, was bedeutete, dass sie möglichst wenig mit den Fingern aß, nicht auf Tischen tanzte und bei offiziellen Empfängen keine Tiergeräusche machen durfte – drei Dinge, die ihr sehr schwerfielen.
Aber nachts, wenn der Schlossgarten in Mondlicht getaucht war und die Turmuhren nur noch langsam tickten, schlich sie sich mit Brummel auf das Dach des Westturms. Dort, auf einem moosbedeckten Sims, machten sie Pläne. „Ich will ein richtiges Abenteuer erleben,“ sagte Marla eines Nachts und starrte in den sternenübersäten Himmel.
„Ein Abenteuer?“ Brummels Stimme vibrierte durch die Dachziegel. „Das ist ein riskantes Unterfangen. Abenteuer sind laut, lang, und meistens voll Schlamm.“
„Ich mag Schlamm,“ antwortete Marla, ohne zu zögern. „Und ich will endlich herausfinden, warum du unsichtbar bist.“
Brummel seufzte. „Ein uralter Zauber. Ein Drachenschwur. Eine Wette mit einem Troll, die ich verloren habe. So genau weiß ich es nicht mehr.“ Er machte eine Pause. „Aber ich weiß, dass ich nicht immer so war.“
Und so beschlossen sie, am nächsten Tag bei Sonnenaufgang heimlich das Schloss zu verlassen und eine Reise anzutreten – eine Reise zu den Quellen des Spiegelwaldes, wo es angeblich ein Wasser gab, das jedes Geheimnis sichtbar machen konnte.
Sie packten Vorräte: einen Beutel mit Käsebrot, einen magischen Kompass, der immer zum nächsten Abenteuer zeigte, und ein Notizbuch voller Karten, Kritzeleien und Brummels Drachengedichte. Der Drache trug alles auf seinem Rücken, auch wenn es für das Auge so aussah, als würde der Proviant schweben.
Sie zogen durch Wälder, in denen die Bäume miteinander flüsterten. „Die Prinzessin kommt, die Prinzessin kommt… und etwas, das wir nicht sehen können…“ Sie überquerten Felder voller singender Blumen, deren Lieder wie leise Harfenklänge im Wind lagen. In einem Dorf begegneten sie einem alten Mann, der rückwärts sprach und behauptete, er sei in einem Zeitschleifen-Unfall steckengeblieben.
Nach drei Tagen und vier halben Nächten erreichten sie den Rand des Spiegelwaldes. Dort wurde alles still. Selbst Brummel, der sonst nie den Mund hielt, schwieg. Die Luft schimmerte wie Wasser, obwohl kein Tropfen zu sehen war. Jeder Schritt klang, als würde man über Glas laufen.
„Hier ist es,“ sagte Marla leise. „Der Quell des Sichtbaren.“
Der Quell war kein Brunnen, wie sie gedacht hatte. Es war ein See, so klar, dass man den Grund sehen konnte, doch wenn man hineinsah, sah man nicht nur Steine, sondern Erinnerungen.
Marla sah sich selbst mit vier Jahren, wie sie ein Stück Kuchen unter dem Tisch versteckte. Dann sah sie Brummel, wie er klein und sichtbar auf einem Bücherregal saß, und wie ein Lichtblitz ihn traf – ein Zauber, schnell wie der Wind, unsichtbar wie er selbst.
„Das ist es,“ flüsterte Brummel.
„Der Fluch. Ich war neugierig und habe in ein Buch gebissen, das nicht für Drachen gedacht war. Jetzt bin ich ein Geheimnis auf vier Beinen.“
„Vielleicht kann der See dich zurückverwandeln,“ sagte Marla entschlossen. „Wenn du hineinsiehst und deinen wahren Namen sagst.“
Brummel zögerte. „Mein wahrer Name ist so alt wie der erste Sonnenaufgang. Ich habe ihn vergessen.“
Marla sah ihn an oder besser gesagt, die Stelle, wo sie glaubte, dass er stand. Dann sagte sie ruhig: „Vielleicht hast du ihn vergessen, aber ich kenne ihn. Du bist Brummel. Du bist mein Freund.“
In diesem Moment blitzte das Wasser des Sees auf, und ein Wind fegte über die Lichtung. Ein Funke, kaum größer als ein Apfelkern, sprang aus dem See empor und berührte die Stelle, wo Brummel stand. Und da, ganz langsam, begann sich etwas zu verändern.
Erst sah man eine Pfote, dann einen Flügel, dann eine große, runde Drachenschnauze mit goldenen Schuppen. Brummel blinzelte, sah seine eigenen Klauen und rief: „Ich sehe meine Füße! Ich habe sehr hübsche Füße!“
Marla lachte. „Und du glänzt wie ein ganzes Drachenfest!“
Sie tanzten um den See, so lange, bis ihnen schwindelig wurde. Die Bäume im Spiegelwald applaudierten leise, und selbst der alte Mann mit der Zeitschleife drehte sich kurz in die richtige Richtung.
Sie kehrten heim mit einem Drachen, der endlich sichtbar war, einem Beutel voller Abenteuerkarten und einem neuen Kapitel in Marlas Notizbuch. Das Schloss war in Aufruhr – ein Drache! Im Garten! Beim Frühstück! Aber Marla erklärte alles mit einer solchen Ruhe und Klarheit, dass sogar der Hofmagier nickte und sagte: „Es gibt Dinge zwischen Himmel und Marmorsäule, die nur Freundschaft erklären kann.“
Brummel wurde zum Königlichen Erzähler ernannt, und jeden Abend las er den Kindern des Palasts Geschichten vor – Geschichten voller Nebel, Käsebrote und Abenteuer, die manchmal wahr waren und manchmal nicht.
Und wenn Prinzessin Marla nachts ins Bett ging, zog sie die Decke bis unters Kinn, lächelte in die Dunkelheit und flüsterte: „Gute Nacht, Brummel.“
„Gute Nacht, meine Prinzessin,“ kam es brummig zurück. „Und träum was Unsichtbares.“
Dann schlief sie ein, mit einem Lächeln im Gesicht und dem sicheren Gefühl, dass ihr Drache nie weit weg war – ob sichtbar oder nicht.




