Die kleine Hexe und das mutige Gespenst
- Michael Mücke
- 8. Apr.
- 3 Min. Lesezeit

Am Rande eines großen Waldes, zwischen flüsternden Bäumen und glitzernden Pilzen, lebte eine kleine Hexe namens Minna. Sie war nicht größer als ein Besenstiel, trug einen spitzen, leicht schiefen Hut und hatte eine große Vorliebe für Himbeermarmelade. Ihr Zauberstab war aus Holunderholz und manchmal kitzelte er sie, wenn sie ihn zu fest hielt.
Minna war freundlich, aber auch ein klein wenig tollpatschig. Ihre Zauber gingen oft daneben. Statt einen Kürbis in eine Laterne zu verwandeln, zauberte sie ihn manchmal in einen Pudding. Doch das machte ihr nichts aus, denn Minna lachte viel – vor allem über sich selbst.
In einer windschiefen Burg, nicht weit von Minnas Hütte entfernt, wohnte ein kleines Gespenst namens Giselbert. Giselbert war blass, durchsichtig und immer ein bisschen nervös. Er wollte ein richtiges Spukgespenst sein, wie seine Uroma Gunda, die Türen klappern und Bücher schweben lassen konnte. Doch Giselbert fürchtete sich… vor fast allem.
„Ich bin nicht besonders gruselig,“ seufzte er oft. „Nicht einmal die Mäuse erschrecken sich vor mir.“
Eines Abends, als der Mond rund wie ein Zauberpfannkuchen am Himmel hing, geschah etwas Seltsames. Die Tiere des Waldes begannen zu flüstern. Die Käuzchen flogen aufgeregt umher, und selbst die Frösche im Teich quakten unruhig.
Etwas Dunkles war unterwegs.
Ein Schatten streifte durch den Wald – groß, schwerfällig und voller Grollen. Pflanzen welkten, wo er vorbeizog, und das Licht der Glühwürmchen flackerte ängstlich. Man munkelte, es sei ein alter Fluch, der aus seiner Höhle gekrochen war.
Minna saß gerade mit einem Stück Marmeladenbrot am Fenster, als ihr Kater Mumpitz mit gesträubtem Fell hereinschoss.
„Was ist denn mit dir los?“ rief sie überrascht. „Du siehst aus, als hättest du einen Kürbis getroffen, der zurück gebissen hat!“
Mumpitz miaute nur schrill und versteckte sich unter dem Besen.
Minna runzelte die Stirn. Etwas stimmte nicht.
Zur selben Zeit schwebte Giselbert in seiner Burg unter dem Dachgebälk. Er hatte einen Apfelgeist-Keks gebacken, der fast gelungen war – wenn man es mochte, dass er ein bisschen nach Knoblauch schmeckte.
Doch dann hörte er das Heulen. Kein Tierlaut, kein Wind. Es war ein tiefes, schreckliches Brummen. Giselbert zitterte.
„Oje. Vielleicht ist es Zeit, endlich mutig zu sein.“
Er beschloss, Hilfe zu suchen. Und so flatterte das kleine Gespenst mitten in der Nacht durch den dunklen Wald, bis er das warme Licht aus Minnas Fenster sah.
„Hallo?“ rief er zaghaft. „Kleine Hexe Minna? Bist du wach?“
Minna öffnete die Tür und staunte.
„Ein echtes Gespenst! Wie aufregend! Möchtest du Tee?“
„Ähm... ja bitte,“ murmelte Giselbert. „Aber ich bin eigentlich wegen etwas Wichtigem hier.“
Er erzählte Minna von dem Dunklen, das durch den Wald zog, und von seiner Angst, dass es etwas Böses war. Minna hörte aufmerksam zu, rührte dabei im Teekessel und nickte ernst.
„Dann müssen wir herausfinden, was es ist. Aber wir brauchen einen guten Plan – und einen mutigen Geist.“
Giselbert schluckte, dann hob er das Kinn.
„Ich will es versuchen. Vielleicht bin ich doch mutiger, als ich dachte.“
Zusammen machten sie sich auf den Weg. Minna schwang sich auf ihren fliegenden Teekessel – sie hatte den Besen letztens aus Versehen in einen Regenschirm verzaubert und Giselbert flatterte hinterher. Über den Bäumen kreisten sie, bis sie das dunkle Wesen entdeckten.
Es war ein riesiger Schatten aus Rauch und Asche. Er brummte ununterbrochen und kroch langsam auf Minnas Hütte zu.
„Wir müssen ihn aufhalten!“ rief Minna. „Aber wie?“
„Lass mich reden,“ sagte Giselbert. „Ich spüre, dass da etwas in ihm ist… vielleicht ist es gar nicht böse.“
Vorsichtig schwebte Giselbert auf den Schatten zu.
„Hallo? Ich bin Giselbert. Du musst keine Angst machen… Wenn du traurig bist oder Hilfe brauchst, kannst du mit uns sprechen.“
Der Schatten hielt inne. Ein tiefer, röchelnder Laut ertönte – fast wie ein Schluchzen. Langsam löste sich die dunkle Masse, und in ihrer Mitte kam ein kleiner, zerzauster Windgeist zum Vorschein. Seine Augen waren traurig, und seine Stimme klang wie Herbstlaub.
„Ich habe mich verirrt,“ hauchte er. „Und meine Magie ist zu stark geworden. Ich wollte niemandem schaden.“
Minna landete neben Giselbert und streichelte den Windgeist sanft über den Kopf.
„Dann komm mit uns. Wir bringen dich nach Hause und zeigen dir, wie du deine Magie richtig einsetzen kannst.“
Der Windgeist nickte dankbar. Gemeinsam kehrten sie zurück – nicht als Feinde, sondern als Freunde. Minna zauberte eine Wolkendecke, damit der kleine Geist schlafen konnte. Giselbert schwebte stolz durch die Burg, wo er endlich Türen knarzen ließ – diesmal aus Freude.
Und in dieser Nacht schliefen nicht nur Minna und Giselbert friedlich ein. Auch der Wald atmete auf. Die Glühwürmchen tanzten wieder, und Mumpitz schnurrte leise im Körbchen.
„Ich war heute mutig,“ flüsterte Giselbert, bevor er in den Schlaf glitt.
„Und ich habe einen neuen Freund gefunden,“ murmelte Minna mit einem Lächeln.
Und so endete eine magische Nacht, in der ein kleines Gespenst wuchs, eine Hexe heilte und ein dunkler Schatten zum Licht fand.