Der Zauberwald und die flüsternden Blumen
- Michael Mücke
- 7. Apr.
- 4 Min. Lesezeit

Es war einmal ein kleines, verträumtes Dorf, eingebettet zwischen endlosen Wiesen, sanften Hügeln und einem tiefgrünen, uralten Wald. Dieser Wald war anders als andere. Kein gewöhnlicher Ort voller Bäume und Tiere. Die Alten des Dorfes nannten ihn ehrfürchtig „den Zauberwald“.
Schon seit Generationen flüsterten sich die Menschen Geschichten über ihn zu. Über sprechende Blumen, wandernde Schatten und einen silbernen Nebel, der den Weg zu einer geheimen Lichtung weist. Aber niemand traute sich hinein. Nicht bei Tag. Und schon gar nicht bei Nacht.
Im Dorf lebte ein Mädchen namens Elina. Sie war gerade einmal zehn Jahre alt, aber sie hatte die Neugier eines Entdeckers in ihren Augen. Ihr Haar war lang und dunkel wie der Waldboden nach einem Regenschauer, ihre Haut war sonnengeküsst, und ihre Gedanken waren voller Träume und Fragen. Jede Nacht saß sie am Fenster ihres Zimmers im kleinen Dachgeschoss und blickte in die Ferne, dorthin, wo der Zauberwald mit seinen endlosen Baumwipfeln begann.
Sie stellte sich vor, wie es wäre, auf den moosigen Pfaden zu gehen, mit Eichhörnchen zu sprechen oder in einem Kreis leuchtender Blumen zu tanzen.
Eines Abends war der Himmel besonders klar. Die Sterne funkelten wie winzige Laternen und der Mond stand rund und strahlend hoch am Himmel. Es war so still, dass Elina den Wind in den Blättern hören konnte. Doch plötzlich war da noch etwas anderes. Etwas leises. Ein Wispern.
Ein Flüstern, das aus dem Wald zu kommen schien. Es war kaum zu hören, aber es war deutlich da.
„Elina... Elina... der Wald ruft dich...“
Sie hielt den Atem an. Das war kein Traum. Das war echt. Das Flüstern klang nicht unheimlich. Es war sanft. Fast so, als würde jemand ihre Hand nehmen wollen.
Elina stand auf, zog sich leise ihren Umhang über, schlüpfte in ihre Stiefel und nahm die kleine Laterne vom Fensterbrett. Sie schlich sich aus dem Haus, vorbei an den schlafenden Eltern, und trat hinaus in die Nacht.
Der Wald lag vor ihr, dunkel und gewaltig. Die Äste bewegten sich im Wind, als winkten sie ihr zu. Der erste Schritt über die Grenze fühlte sich an wie der Beginn eines Zaubers. Sobald sie den Waldboden betrat, veränderte sich alles. Die Geräusche wurden klarer. Der Wind sprach. Die Erde vibrierte leicht unter ihren Füßen. Und überall begannen kleine Lichter aufzuleuchten. Es waren Blumen. Überall auf dem Boden wuchsen seltsame, leuchtende Blüten. Sie öffneten sich langsam, ihre Farben reichten von tiefem Blau bis zu zartem Rosa, und sie begannen zu flüstern.
„Willkommen, Elina... wir haben auf dich gewartet...“
Sie war überwältigt. Die Stimmen kamen aus allen Richtungen. Jede Blume sprach anders. Manche flüsterten wie der Wind. Andere summten wie Bienen. Und einige sangen in einem Ton, der direkt in ihr Herz drang.
Elina kniete sich zu einer der größten Blumen, deren Blütenblätter silbern glänzten und sagte: „Warum ruft ihr mich?“
„Der Zauberwald ist in Gefahr... der Nachtkristall wurde gestohlen...“
„Ohne ihn wird unsere Magie schwächer... die Träume der Kinder verschwinden... die Tiere finden keinen Schlaf...“
„Nur du kannst uns helfen... du trägst das Licht in deinem Herzen...“
Elina schluckte. Sie war nur ein Mädchen. Wie sollte sie helfen? Doch eine warme Stimme sagte:
„Der Mut wohnt in der Stille... du musst nur den ersten Schritt tun...“
Da formten sich aus dem Boden goldene Spuren, die aussahen wie schimmernder Tau. Die Blumen verbeugten sich leicht, und der Weg begann zu leuchten.
Elina folgte dem Pfad durch den dunklen Wald. Der Boden war weich und federnd. Über ihr schwebten Glühwürmchen, die Muster in die Nacht zeichneten. Immer wieder öffneten sich neue Blumen, jede mit ihrem eigenen Lied.
Nach einer Weile hörte sie ein Rascheln. Aus dem Gebüsch trat ein Tier. Es war ein kleiner Fuchs, aber anders als die Füchse, die sie kannte. Sein Fell war silbern und seine Augen schimmerten in Violett.
Er verbeugte sich leicht und sprach mit ruhiger Stimme:
„Ich bin Fenn. Wächter des Dämmerpfades. Ich begleite dich auf deiner Reise.“
Gemeinsam gingen sie weiter. Sie überquerten einen Bach aus Licht, in dem kleine Fische aus reiner Energie schwammen. Die Bäume wuchsen höher, wurden älter, begannen leise Lieder zu summen. Schließlich erreichten sie die Herzlichtung – das Zentrum des Waldes.
Dort schwebte ein Schatten. Schwarz und formlos. Aus seiner Mitte leuchtete etwas Helles – der Nachtkristall. Doch er war umhüllt von Dunkelheit.
Elina trat vor. Ihre Laterne begann zu leuchten. Der Schatten sprach:
„Du willst den Kristall zurück? Du bist nur ein Kind... was kannst du gegen die Dunkelheit tun?“
Elina hielt die Laterne fest und sagte:
„Ich bin vielleicht klein, aber ich habe keine Angst. Denn ich bin nicht allein.“
Da begannen die Blumen zu singen. Ihre Stimmen waren überall.
„Elina trägt das Licht... das Licht, das uns heilt...“
Fenn trat neben sie und neigte seinen Kopf.
Elina hob die Laterne, und ein Lichtstrahl schoss heraus, klar und hell. Er traf den Schatten mitten in sein dunkles Herz. Der Schatten kreischte auf, wurde kleiner, verlor seine Gestalt, bis nur noch der Kristall übrig war.
Fenn sprang vor, nahm ihn behutsam auf und brachte ihn zu einem steinernen Altar, der aus dem Boden gewachsen war.
In dem Moment, in dem der Kristall den Altar berührte, breitete sich ein warmes, silbernes Licht über den ganzen Wald aus. Die Blumen öffneten ihre Blüten ganz, die Bäume tanzten im Wind, und selbst der Himmel wurde heller. Vögel begannen zu singen, und über den Wipfeln erschien das erste Rosa des Morgens.
Elina sah sich um. Der Zauberwald blühte auf. Alles war erfüllt von Musik, Duft und Leben.
Fenn sah sie an.
„Du hast das Gleichgewicht wiedergebracht. Die Träume sind sicher. Und der Wald wird deinen Namen flüstern, solange es Sterne gibt.“
Elina lächelte. Ein kleiner, zärtlicher Moment. Sie war gekommen, ohne zu wissen, warum. Und ging nun als Heldin zurück.
Der Weg nach Hause war leicht. Die Blumen schlossen sich langsam, murmelten zum Abschied:
„Danke, Elina... schlaf gut... träum weiter... komm bald zurück...“
Sie schloss die Tür leise hinter sich, legte die Laterne wieder ans Fenster, kroch ins Bett und hörte noch eine Weile das Flüstern aus dem Wald.
Und dann schlief sie ein. Tief und ruhig. Denn irgendwo, zwischen den Bäumen und dem Licht, sang der Zauberwald ihr ein Lied.
„Gute Nacht, kleine Hüterin der Träume...“