Der Pinguin mit den roten Schuhen
- Michael Mücke
- 14. Apr.
- 4 Min. Lesezeit

In einem eisigen Land weit im Süden, wo der Schnee den ganzen Winter über nicht schmolz und die Sterne in der klaren Nacht wie Diamanten funkelten, lebte ein kleiner Tief im ewigen Eis der Antarktis, wo der Wind Geschichten flüstert und das Polarlicht in der Nacht über den Himmel tanzt, lebte ein kleiner Pinguin namens Paul. Er war nicht besonders groß, nicht besonders laut – aber seine Füße waren ein echtes Wunder: Er trug leuchtend rote Schuhe.
Niemand wusste, woher sie kamen. Nicht einmal Paul selbst.
„Wieso trägst du diese knallroten Dinger?“, fragte der grummelige alte Pinguin-Kapitän Krächz, während er sich den Schnee aus dem Schnabel schüttelte.
Paul zuckte mit den Flügeln. „Ich hab sie einfach gefunden. Eines Morgens standen sie vor meiner Höhle. Seitdem kann ich Dinge sehen, die kein anderer sieht.“
Die anderen lachten. Doch Paul meinte es ernst. Seit er die Schuhe trug, hatte sich etwas verändert. Er hörte Stimmen im Wind. Er sah Spuren im Eis, die niemand sonst bemerken konnte. Und manchmal, wenn niemand hinsah, leuchteten die Schuhe von selbst.
Eines Nachts wurde Paul von einem leisen Wispern geweckt. Draußen tanzte das Polarlicht in wildem Grün und Violett. Er trat hinaus. Im Schnee vor ihm leuchtete eine geheimnisvolle Spur – als wäre sie nur für ihn gemacht.
„Folge mir...“, flüsterte eine Stimme im Wind. „Dein Schicksal wartet.“
Ohne zu zögern schlüpfte Paul in seine roten Schuhe, schnappte sich seinen warmen Schal und watschelte los.
Nach wenigen Metern hörte er hastige Schritte hinter sich. Es war Pippa – seine beste Freundin. „Du dachtest doch nicht, du gehst ohne mich auf ein Abenteuer, oder?“ rief sie und grinste.
Gemeinsam folgten sie der leuchtenden Spur. Stunden vergingen. Die Landschaft veränderte sich. Das flache Eis wurde zu zerklüfteten Schluchten, in denen bläuliche Kristalle glühten. Seltsame Tiere huschten in der Ferne vorbei – halb durchsichtig, wie aus Träumen geformt.
„Was ist das für ein Ort?“, flüsterte Pippa ehrfürchtig.
„Ich weiß es nicht… aber ich glaube, es ist kein normaler Teil der Welt.“, antwortete Paul.
Am Fuß eines schimmernden Berges – so hoch, dass sein Gipfel in den Himmel zu ragen schien – endete die Spur. In einer Felsspalte stand eine uralte Tür aus Eis, auf der ein Symbol glühte: zwei rote Schuhe.
„Nur du kannst eintreten,“ sagte eine Stimme, die nun deutlich aus der Tür selbst kam. „Die Schuhe gehören dir – und mit ihnen das Vermächtnis der Eiswanderer.“
„Was sind Eiswanderer?“, fragte Paul.
Die Tür antwortete nicht.
„Dann finde ich es eben selbst heraus.“, murmelte Paul mutig und trat durch das Eis.
In dem Moment wurde er von einem Lichtblitz erfasst und verschwand.
Paul erwachte auf einer Plattform aus schwebendem Eis. Um ihn herum schwebten seltsame Wesen – kristallene Pinguine mit leuchtenden Augen, die langsam um ihn kreisten.
„Du hast die Schuhe gefunden,“ sagte einer von ihnen. „Du wurdest gewählt.“
„Gewählt wofür?“
„Zum Hüter des Eises. Die rote Farbe steht für Mut. Die Schuhe öffnen Wege, die niemand sonst betreten kann.“
Paul war überwältigt. Doch dann veränderte sich das Licht. Alles wurde düster.
„Doch sei gewarnt,“ fuhr die Stimme fort. „Es gibt einen, der die Schuhe ebenfalls will. Er wurde einst verstoßen – der Schattenwanderer. Und er weiß nun, dass du sie trägst.“
Zurück in der wirklichen Welt wartete Pippa, als plötzlich der Boden bebte. Die Tür barst, ein kalter Wind stieß hervor und mit ihm kam eine dunkle Gestalt. Ein Pinguin, größer als jeder andere, in schwarzen Federn gehüllt, mit Augen wie Eis.
„Wo ist der Junge mit den roten Schuhen?“, grollte er.
Pippa stellte sich schützend vor die Tür. „Du wirst ihn nicht finden. Und wenn doch – wird er dich besiegen.“
Paul wurde zurückgeschleudert in die kalte Wirklichkeit. Die Schuhe unter seinen Füßen brannten heiß. Er spürte, wie eine Energie durch seinen Körper floss. Mut. Hoffnung. Kraft.
Er rannte den Berg hinunter – der Schattenwanderer stand am Rand des Abgrunds. Pippa, verletzt, aber standhaft, funkelte ihm zu.
„Jetzt ist es Zeit, Paul,“ sagte sie. „Zeig, was du in dir trägst.“
Paul atmete tief ein. „Ich bin nicht wie du. Ich will die Welt nicht beherrschen. Ich will sie verstehen.“
„Dann wirst du verlieren,“ knurrte der Schattenwanderer.
Aber in diesem Moment begannen die Schuhe zu leuchten – heller als je zuvor. Die Farben des Polarlichts bündelten sich in Pauls Herz. Mit einem kräftigen Flügelschlag trat er vor – und die Zeit schien stillzustehen.
Er erinnerte sich an die Worte des Kristallpinguins: „Die wahre Macht der Schuhe liegt in dem, was du gibst, nicht in dem, was du nimmst.“
Paul hob eine Flosse. „Ich vergebe dir.“
Der Schattenwanderer erstarrte. Die Dunkelheit um ihn begann zu bröckeln. Und dann, in einem Sturm aus Licht, wurde er zurückverwandelt – zu einem einfachen Pinguin, wie Paul.
Seit jenem Tag war Paul kein gewöhnlicher Pinguin mehr. Die roten Schuhe trug er weiterhin – aber nun wusste er, wofür sie standen.
Er reiste durch die weiten Länder des Südens, half verlorenen Tieren, heilte zerbrochene Eisschollen und lehrte andere, was es bedeutet, mutig zu sein.
Und manchmal, wenn der Wind leise über das Eis weht, kann man seine Stimme hören:
„Träume groß. Fürchte nichts. Und geh deinen eigenen Weg – egal welche Farbe deine Schuhe haben.“
Gute Nacht, kleine Träumerin, kleiner Träumer. Und wer weiß – vielleicht stehen morgen rote Schuhe vor deiner Tür.