Der mutige Marienkäfer mit Höhenangst - Gute-Nacht-Geschichte
- Michael Mücke
- 19. Mai
- 5 Min. Lesezeit

In einem großen, blühenden Garten, verborgen hinter einem alten Apfelbaum und geschützt von einer hohen Hecke, lebte ein kleiner Marienkäfer namens Max. Er war nicht größer als ein Knopf und hatte ein leuchtend rotes Panzerkleid mit sieben perfekt runden, tiefschwarzen Punkten. Seine Flügel glänzten wie frisch gemalt, und seine Fühler zuckten immer neugierig, wenn er etwas Neues entdeckte.
Max war freundlich, höflich und hilfsbereit. Er kannte jede Pflanze, jeden Käfer und sogar die Namen der Spatzen, die oft auf dem Gartenschuppen saßen und ihre Lieder zwitscherten. Die Welt war für Max ein großes Abenteuer, solange sie sich am Boden abspielte. Denn Max hatte ein Problem, das ihn von den anderen Marienkäfern unterschied:
Er hatte schreckliche Höhenangst.
Schon beim Gedanken daran, von einer Blume zur nächsten zu fliegen, bekam Max weiche Beine. Seine Flügel fühlten sich dann an wie aus Gummi, und sein kleiner Marienkäfer-Magen machte Saltos. Während seine Geschwister Lilli, Bruno und Pia fröhlich über die Wiese summten, Loopings flogen und sich im Aufwind treiben ließen, blieb Max lieber unten im Gras. Er sammelte Tautropfen, kletterte auf kleine Steine oder kroch durch das dichte Moos unter dem Fliederstrauch.
Natürlich bemerkten die anderen Marienkäfer, dass Max nie mitflog. Einige kicherten hinter vorgehaltenen Flügeln, doch Max ließ sich nichts anmerken. Er lachte mit, winkte ihnen zu – und versteckte sich dann hinter einem Gänseblümchen.
Seine besten Freunde, der neugierige Regenwurm Rudi, die quirlige Ameise Tilli und der alte Schmetterling Ferdinand, wussten von seiner Angst. Und sie lachten nicht. Sie standen Max bei, ermutigten ihn und waren stolz auf ihn – nicht weil er flog, sondern weil er so ein großes Herz hatte.
Eines warmen Sommerabends saßen sie zusammen am Rand des kleinen Seerosenteichs. Die Sonne schickte goldene Strahlen über das Wasser, Libellen summten über die Oberfläche, und in der Ferne hörte man das Rascheln eines Igels im Unterholz.
„Ich würde so gern einmal fliegen, wie ihr das könnt“, sagte Max leise und betrachtete sein Spiegelbild im Wasser. „Einfach losflattern und die Welt von oben sehen... aber meine Flügel frieren jedes Mal ein, wenn ich es versuche.“
Ferdinand, dessen bunte Flügel vom Leben und vielen Reisen zeugten, legte sanft eine seiner Flügelspitzen auf Max’ Rücken. „Weißt du, Max,“ sagte er mit seiner sanften, ruhigen Stimme, „viele denken, mutig sei der, der keine Angst kennt. Aber das stimmt nicht. Mutig ist, wer seine Angst kennt – und trotzdem den ersten Schritt wagt.“
„Oder den ersten Flügelschlag!“ ergänzte Tilli und zwinkerte.
Rudi, der sich inzwischen in ein Blatt eingekuschelt hatte, murmelte: „Ich bin auch nicht mutig. Ich kann nicht mal klettern. Aber ich grabe mich durchs Dunkel, weil ich weiß, dass irgendwo das Licht wartet.“
Max lächelte schwach. Er fühlte sich warm ums Herz – nicht weil seine Angst verschwunden war, sondern weil seine Freunde ihn verstanden. Und so fasste er einen Entschluss: Er wollte es versuchen. Nicht allein. Aber vielleicht… Schritt für Schritt. Oder, wie Tilli gesagt hatte: Flügel für Flügel.
In den folgenden Tagen begannen sie mit ihrem Plan. Ferdinand wählte für die ersten Flugübungen einen besonders sicheren Ort: das große, weiche Moosfeld hinter dem Brombeerbusch. „Falls du fällst, landest du weich“, sagte er und blinzelte Max zu.
Zuerst sollte Max nur klettern – auf kleine Steine, dann auf einen Pilz, schließlich auf einen Grashalm. Er zitterte oft dabei, doch jedes Mal warteten seine Freunde unten und riefen ihm zu:„Du schaffst das, Max!“„Nur noch ein Stück, dann gibt’s Honigtau!“„Denk an die Aussicht, die du bald haben wirst!“
Als Max eines Tages zum ersten Mal seine Flügel ausbreitete – ganz vorsichtig – spürte er den Wind unter sich. Nur einen winzigen Moment. Er flatterte hektisch und plumpste sofort auf den Rücken. Doch er lachte, als Ferdinand ihm aufhalf.
„Das war ein Flug, Max. Auch wenn er nur kurz war.“
Nach vielen Tagen und vielen kleinen Erfolgen fühlte sich Max bereit. Doch dann geschah etwas Unerwartetes.
Ein starker Sommerwind fegte plötzlich durch den Garten. Die Sonne war gerade dabei unterzugehen, und dunkle Wolken türmten sich am Himmel auf. Ein leiser Donner grollte in der Ferne. Die Tiere des Gartens suchten Schutz unter Blättern, in Baumhöhlen und kleinen Erdlöchern.
Und genau in diesem Moment hörte Max einen Ruf – hell, verzweifelt, voller Angst:„Hiiilfe! Ich sitze fest!“
Es war der kleine Käferjunge Paul, ein neugieriger, etwas tollpatschiger Nachwuchsmarienkäfer, der sich auf eine hohe Distel verirrt hatte. Der Wind hatte ihn dorthin geweht, und nun klammerte er sich zitternd an einen Stachel, viel zu hoch für jeden zu Fuß.
„Was sollen wir tun?“ rief Lilli. „Der Wind ist zu stark, ich komme da nicht ran!“
Ferdinand schüttelte den Kopf. „Ich bin zu alt. Ich schaffe es nicht bei diesem Sturm.“
Alle schauten sich an – und dann schauten sie Max an.
Max spürte, wie sein Herz raste. Seine Flügel wollten sich verstecken, sein Körper zitterte. Und doch… da war auch ein anderes Gefühl. Etwas Neues. Eine Stimme tief in ihm sagte: „Jetzt. Jetzt ist der Moment.“
„Ich… ich werde fliegen“, sagte Max leise.
„Was hast du gesagt?“ fragte Tilli.
„Ich werde fliegen. Ich will Paul helfen. Auch wenn ich Angst habe.“
Langsam, Schritt für Schritt, kletterte Max auf den höchsten Mohnstängel. Der Wind wehte ihm ins Gesicht, doch er blieb stehen. Er breitete seine Flügel aus. Sie flatterten, unsicher, zitternd.
„Du kannst das, Max!“ rief Rudi.
„Du bist bereit!“ rief Ferdinand. Und Max sprang.
Er wurde sofort vom Wind erfasst, taumelte durch die Luft, flog viel zu schnell, viel zu hoch, verlor fast die Kontrolle – aber er flog! Er kämpfte sich durch den Wind, immer wieder von Böen getroffen, doch er gab nicht auf. Da! Die Distel! Pauls kleiner Körper klammerte sich verzweifelt an einen Stachel.
„Halte dich fest! Ich bin gleich da!“ rief Max, so laut er konnte.
Paul sah ihn, und Hoffnung kehrte in seine Augen zurück. Max schwebte näher heran, streckte seine kleinen Beine aus – und griff zu. Paul klammerte sich an ihn, und gemeinsam flatterten sie zurück, hinunter, immer tiefer, dem sicheren Boden entgegen.
Der Wind trug sie noch ein Stück, dann ließ er nach. Max landete mit Paul auf einer weichen Glockenblume. Der Garten jubelte. Selbst der Wind schien zu applaudieren, als er sanft durch die Blätter strich.
„Max! Du hast ihn gerettet!“ rief Lilli.
„Du bist geflogen, Max! Und wie!“ rief Tilli.
Max war außer Atem. Seine Flügel brannten, sein Herz pochte wie wild, doch er lachte.
„Ich hatte solche Angst… aber ich hab’s getan.“
Ferdinand landete neben ihm. „Du warst mutig, Max. Du bist geflogen, nicht ohne Angst – sondern trotz ihr. Und das ist der wahre Mut.“
In dieser Nacht schlief Max nicht wie sonst in einem Grashalm oder unter einem Blatt. Er kroch auf eine Sonnenblume, hoch hinauf, bis zur Spitze.
Dort legte er sich hin, schaute in den klaren Sternenhimmel und flüsterte:
„Ich bin geflogen. Ich bin wirklich geflogen.“
Der Wind strich sanft über ihn hinweg, als würde er ihm eine letzte Geschichte ins Ohr flüstern: „Ein Zittern… und dann ein Tanz…“
Und so schlief Max ein – mit einem Lächeln, das bis in den Himmel reichte.
Gute Nacht, kleiner Marienkäfer. Gute Nacht, kleiner Held.