Der fliegende Teppich im Kinderzimmer - Gute-Nacht-Geschichte
- Michael Mücke
- 4. Juni
- 3 Min. Lesezeit

In einem ruhigen Dorf, umgeben von weiten Feldern und duftenden Apfelbäumen, lebte ein Mädchen namens Liora. Liora war sechs Jahre alt, hatte wilde Locken wie kleine Wellen und große, neugierige Augen, die selbst in der Dunkelheit noch zu leuchten schienen.
Sie liebte es, in ihrem Zimmer zu sitzen, Bilder zu malen und sich Geschichten auszudenken, die so wunderbar waren, dass selbst ihre Stofftiere manchmal erstaunt schauten.
Es war ein Abend wie viele andere – zumindest dachte Liora das. Der Himmel draußen war in samtiges Dunkelblau getaucht, und der Wind flüsterte leise durch die alten Bäume hinter dem Haus. Ihre Mutter hatte ihr schon eine Geschichte vorgelesen, sie zugedeckt, einen Gute-Nacht-Kuss gegeben und das Licht gelöscht.
Doch irgendetwas war heute anders. Es war nicht unheimlich, nein – eher wie das leise Kitzeln einer Überraschung. Liora lag still unter ihrer Decke und spürte, dass etwas in der Luft lag. Als sie sich leise aufrichtete, bemerkte sie es zuerst nur aus dem Augenwinkel: Ihr bunter Teppich, der sonst ganz ruhig vor ihrem Bett lag, hob sich sanft an den Ecken.
Ein zartes Leuchten kroch durch die Fasern, als hätte jemand winzige Sterne hineingewoben. Dann hörte sie es – eine Stimme, freundlich, ruhig und ein kleines bisschen geheimnisvoll: „Liora… willst du heute Nacht fliegen?“
Liora blinzelte. War sie schon am Träumen? Nein, alles fühlte sich echt an. Sie stand vorsichtig auf, trat barfuß auf den Teppich, der sich unter ihren Füßen weich und lebendig anfühlte – wie warmer Sand in der Morgensonne.
„Ich bin der Teppich der Träumer,“ sagte er mit einem leisen Kichern, „und ich bringe dich dorthin, wo Fantasie beginnt.“
Liora kicherte, drehte sich einmal auf der Stelle und setzte sich im Schneidersitz mitten auf das flauschige Muster. Der Teppich wölbte sich leicht, dann wie von Zauberhand stieg er langsam vom Boden auf. Zuerst nur ein kleines Stück, gerade genug, dass die Bücher auf dem Regal zu ihr hinaufschauten. Dann immer höher, durch das Fenster, das sich von allein öffnete, ohne ein Geräusch.
Draußen war die Nacht nicht mehr nur dunkel. Der Himmel war übersät mit bunten Streifen und tanzenden Lichtern. Planeten wie Zuckerbälle drehten sich im Takt einer Musik, die man nicht hören, aber tief im Herzen fühlen konnte.
„Wohin willst du, Liora?“ fragte der Teppich.
„Dorthin, wo Träume fliegen können und nichts unmöglich ist!“, rief sie mutig, und der Teppich stieg höher, schneller, schwebte durch einen Regenbogen aus glitzerndem Staub, der nach Karamell duftete.
Sie flogen durch ein Tal aus leuchtenden Wolken, die sich bei Berührung in flauschige Tiere verwandelten – eine davon war ein Wolkenhase, der sie mit großen Augen anlächelte und winkte. Weiter unten glänzte ein See aus flüssigem Mondlicht, auf dem riesige Seerosen wuchsen, so groß wie Inseln.
Der Teppich landete sanft auf einer davon. Dort saßen Wesen, wie Liora sie noch nie gesehen hatte: Ein Löwe mit Schmetterlingsflügeln, ein Kaktus, der sprechen konnte, und ein winziger Drache, der ständig niesen musste und dabei bunte Funken ausspuckte.
„Willkommen im Traumkreis,“ sagte der Löwe mit tiefer Stimme, „nur Kinder mit offenen Herzen finden den Weg zu uns.“
Liora trat näher. Der Teppich flüsterte ihr zu: „Das ist der Ort, an dem Wünsche wachsen wie Blumen.“
In der Mitte der Seeroseninsel stand ein Baum aus gläsernem Holz, an dessen Ästen kleine Lichter baumelten wie Früchte.
„Das sind Traumlichter,“ erklärte der sprechende Kaktus, „sie zeigen, was in dir lebt.“
Ein Licht fiel direkt in Lioras Hände. Es war warm, wie eine Tasse Kakao, und leuchtete in einem sanften Rosa. Sie hielt es ans Herz, und plötzlich stand sie in einem neuen Traum:
Sie flog auf dem Rücken eines riesigen Schmetterlings durch ein Labyrinth aus tanzenden Spiegeln. Jeder Spiegel zeigte eine andere Welt – in einer lebten Kekse, die musizierten, in einer anderen ritten Mäuse auf fliegenden Löffeln. Sie lachte, drehte sich, schwebte mit dem Wind.
Dann hörte sie wieder die vertraute Stimme des Teppichs: „Es wird Zeit, kleine Fliegerin.“
Langsam, ganz langsam wurde alles wieder weicher, dunkler, wärmer. Die Farben verblassten wie ein Sonnenuntergang, und der Teppich brachte sie durch den Nachthimmel zurück in ihr Zimmer.
Der Mond stand noch über dem Dach, das Fenster war wieder geschlossen, und der Teppich glitt leise zu Boden. Liora kroch zurück ins Bett, müde, aber glücklich.
„War das echt?“, flüsterte sie.
Der Teppich antwortete nur: „Jede Reise beginnt in dir. Träum weiter, Liora.“
Dann war alles still. Die Schatten waren wieder einfach nur Schatten, das Zimmer war wieder ganz gewöhnlich – fast. Denn wenn man ganz genau hinschaute, konnte man in der Mitte des Teppichs ein kleines, rosafarbenes Leuchten sehen, das langsam pulsiert wie ein Herz im Schlaf.
Und irgendwo tief in der Nacht, in der Stille zwischen zwei Atemzügen, hörte man ein leises Flüstern: „Ich komme wieder, wenn du bereit bist.“