Das Glühwürmchen, das nie allein leuchten wollte - Gute-Nacht-Geschichte
- Michael Mücke
- 6. Mai
- 4 Min. Lesezeit

Tief verborgen in einem großen, moosbedeckten Wald, wo die Wurzeln der Bäume flüsterten und der Wind wie ein Schlaflied durch die Blätter strich, lebte ein kleines Glühwürmchen namens Lumo.
Er war zart gebaut, mit durchscheinenden Flügeln, die im Sonnenlicht wie Glas schimmerten, und einem winzigen Körper, der wie Bernstein leuchtete zumindest, wenn er es wollte. Doch das war genau das Problem: Lumo wollte selten leuchten.
Jeden Abend, wenn die Sonne sich hinter die Hügel zurückzog und der Himmel langsam von orange zu tiefblau wechselte, begann das große Leuchten der Glühwürmchen. Es war ein wunderschönes Schauspiel. Tausende kleine Lichtpunkte stiegen tanzend aus dem Gras auf, wirbelten zwischen den Ästen, flackerten über stillen Teichen. Die Tiere des Waldes, die Kaninchen, die Rehe, selbst die alten Schildkröten – kamen heraus, um dieses leuchtende Wunder zu beobachten.
Doch Lumo versteckte sich. Er kroch unter ein gewelltes Blatt oder saß ganz still in der Rinde eines alten Baumes. Manchmal bewegte er sich mit den anderen mit, aber immer ohne Licht.
„Ich will nicht allein leuchten. Ich will nicht auffallen,“ dachte er oft.
Dabei war Lumo dafür bekannt, dass sein Licht besonders hell und warm war, beinahe goldfarben, wie die letzten Sonnenstrahlen am Horizont. Andere Glühwürmchen beneideten ihn heimlich dafür, aber Lumo wusste nichts davon.
Er hatte Angst. Angst, dass sein Licht zu stark sein könnte. Angst, dass die anderen ihn komisch finden würden. Angst, dass er nicht dazugehörte.
Eines Abends, als der Tau sich leise über die Gräser legte und der Wald in ein sanftes Dämmern getaucht war, hörte Lumo eine leise Stimme. Es war nicht die eines Tieres, sondern das Knacken und Raunen eines alten Wesens – der große Eichenbaum, der am Rand einer Lichtung stand. Seine Rinde war von Moos bedeckt, und seine Äste waren so weit verzweigt, dass sie wie Arme in den Himmel griffen.
„Lumo,“ sagte der Baum mit ruhiger, tiefer Stimme, „warum versteckst du dein Licht, wenn es doch die Nacht schöner machen könnte?“
Lumo zögerte, doch dann trat er näher. Der Baum hatte eine Art, mit ihm zu sprechen, die nicht forderte, sondern verstand. „Ich weiß nicht, ob mein Licht willkommen ist. Vielleicht ist es zu hell, zu anders. Ich möchte nicht, dass die anderen mich anschauen und denken, ich will besser sein. Ich will einfach dazugehören, nicht herausstechen.“
Ein sanftes Rascheln ging durch die Blätter des Baumes, wie ein verständnisvolles Lächeln. „Weißt du, kleiner Freund,“ begann der Baum, „die Nacht lebt vom Licht. Jedes Licht ist anders. Manche leuchten leise und zart, andere mutig und stark. Aber kein Licht nimmt dem anderen etwas weg. Im Gegenteil – gemeinsam sind sie wunderschön.“
Lumo sah zu Boden. Die Rinde des Baumes fühlte sich warm an, als er sie berührte. „Aber ich habe schon einmal geleuchtet, als ich ganz klein war. Alle haben sich umgedreht. Ich habe mich erschrocken und seitdem nie wieder so hell geleuchtet.“
Der Baum nickte langsam, seine Äste knarrten leicht im Wind. „Manchmal erschrecken wir andere, nicht weil wir zu viel sind, sondern weil sie unser Licht noch nicht kennen. Aber das bedeutet nicht, dass du es verstecken musst. Vielleicht, wenn du dein Licht zeigst, hilfst du anderen, auch ihres zu entfalten.“
Diese Worte blieben in Lumo hängen, wie warmer Honig, der langsam durchs Herz tropfte. Er verabschiedete sich leise vom Baum und flog zurück auf eine kleine Blume, die im Schatten stand. Er dachte lange nach, während die anderen Glühwürmchen tanzten.
Und dann geschah es.
Ein Windstoß kam auf. Plötzlich zog sich der Himmel zusammen, dunkle Wolken bedeckten die Sterne, und ein leiser Regen setzte ein. Die Glühwürmchen flatterten verwirrt umher, einige verloren sich aus den Augen, denn ohne das Mondlicht war es stockdunkel geworden. Die kleineren Glühwürmchen riefen nach ihren Freunden, aber sie fanden sie nicht.
Lumo hörte die Rufe. Und tief in seinem Inneren regte sich etwas. Es war ein Zittern, ein Drängen – sein Herz schlug schnell. „Jetzt ist der Moment,“ flüsterte er sich selbst zu.
„Jetzt kann ich helfen.“
Er schloss die Augen und atmete tief ein.
Dann öffnete er sie und leuchtete.
Nicht zaghaft, nicht versteckt – sondern in voller Kraft. Ein warmes, goldenes Licht entfaltete sich um ihn herum. Es durchbrach die Dunkelheit wie die Sonne einen Nebelvorhang. Der Regen spiegelte sich in seinem Leuchten, und kleine Tropfen glitzerten wie Diamanten. Die Glühwürmchen drehten sich um, erkannten das Licht – und flogen ihm entgegen.
„Da ist Lumo! Dort ist er!“ riefen sie erleichtert.
Er leitete sie zurück, half, die Gruppen wiederzufinden, leuchtete auf dem Rückweg über einen kleinen Bach, sodass auch die Käfer am Boden den sicheren Weg fanden. Und niemand sagte: „Du bist zu hell.“
Stattdessen hörte Lumo Dinge wie: „Dein Licht hat uns gerettet.“, „Ohne dich hätten wir uns verirrt.“, „Wie hast du das gemacht?“
Als der Regen nachließ und sich die Wolken langsam verzogen, kam das Mondlicht zurück. Lumo schwebte still in der Luft, müde, aber voller Frieden. Zum ersten Mal fühlte er sich ganz, nicht weil er besonders gewesen war, sondern weil er sich gezeigt hatte, wie er war.
Und in dieser Nacht, dieser besonderen Nacht, beschlossen die Glühwürmchen, jedes Jahr ein Fest zu feiern, das sie „Das große Leuchten“ nannten. An diesem Abend sollte jedes Glühwürmchen so hell leuchten, wie es nur konnte, ohne Angst, ohne Scham – nur Freude.
Lumo war nun nicht mehr das Glühwürmchen, das nie allein leuchten wollte.
Er war das Glühwürmchen, das gelernt hatte, dass sein Licht nicht nur für ihn bestimmt war, sondern für alle, die es brauchten.
Und tief in seinem kleinen Herzen wusste er: „Ich muss nie allein leuchten. Denn wenn ich mutig bin, leuchten andere mit mir.“